Medizinische Beurteilung eines Patienten mit psychischen Symptomen

VonMichael B. First, MD, Columbia University
Überprüft/überarbeitet Mai 2022 | Geändert Dez. 2022
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Patienten mit psychischen Beschwerden oder Problemen oder Verhaltensstörungen stellen sich in verschiedenen medizinischen Einrichtungen vor, auch in der Hausarztpraxis oder in Notfallambulanzen. Die Beschwerden oder Sorgen können neu aufgetreten oder durch eine bereits bestehende psychische Problematik bedingt sein. Beschwerden können mit der Bewältigung einer körperlichen Erkrankung zusammenhängen oder die direkten Auswirkungen einer körperlichen Verfassung auf das Gehirn sein. Das Vorgehen bei der Beurteilung richtet sich danach, ob die Beschwerden einen Notfall darstellen oder ob sie bei einem geplanten Termin berichtet werden. Bei einem Notfall muss sich ein Arzt stärker auf die aktuelle medizinische Vorgeschichte, die Symptome und das Verhalten konzentrieren, um entscheiden zu können, wie vorzugehen ist. Bei einem geplanten Arzttermin ist eine tiefer gehende Beurteilung angezeigt.

Bei der medizinischen Beurteilung von Patienten mit psychischen Symptomen wird versucht, 3 Dinge zu identifizieren:

  • Körperliche Erkrankungen, die psychische Störungen imitieren

  • Körperliche Erkrankungen, die durch psychische Störungen oder deren Behandlung verursacht werden

  • Körperliche Erkrankungen, die psychische Störungen begleiten

Zahlreiche körperliche Erkrankungen verursachen Symptome, die spezifische psychische Störungen imitieren (siehe Tabelle Ausgewählte psychische Symptome aufgrund von körperlichen Erkrankungen). Andere körperliche Erkrankungen täuschen keine spezifischen psychischen Syndrome vor, sondern wirken sich auf Stimmung und Energie aus.

Viele Medikamente verursachen psychische Symptome; die gängigen Gruppen von medikamentösen Ursachen sind

Zahlreiche andere therapeutische Substanzen und Arzneimittelklassen wurden ebenfalls eingeschlossen; zu diesen gehören einige Substanzklassen, die normalerweise vielleicht nicht berücksichtigt werden (z. B. Antibiotika, Antihypertensiva). Missbrauchte Drogen/Arzneimittel, insbesondere Alkohol, Amphetamine, Marihuana (Cannabis)Kokain, Halluzinogene und Phencyclidin (PCP), sind, v. a. bei Überdosierung, ebenfalls häufige Ursachen von psychischen Symptomen. Entzug von Alkohol, Barbituraten oder Benzodiazepinen kann, zusätzlich zu den körperlichen Entzugssymptomen, psychische Symptome (z. B. Angst) hervorrufen.

Patienten mit einer psychischen Störung können eine nicht damit zusammenhängende körperliche Erkrankung entwicklen (z. B. Meningitis, diabetische Ketoazidose), die neue oder verschlechterte psychische Symptome verursacht. Somit sollte ein Arzt nicht davon ausgehen, dass alle psychischen Symptome bei Patienten mit einer bekannten psychischen Störung auf diese Erkrankung zurückzuführen sind. Der Arzt muss möglicherweise etwaige körperliche Ursachen für psychische Symptome proaktiv angehen, insbesondere bei Patienten, die ihren körperlichen Gesundheitszustand nicht beschreiben können, weil sie eine Psychose oder Demenz haben.

Tipps und Risiken

  • Gehen Sie nicht davon aus, dass alle psychischen Symptome bei Patienten mit einer bekannten psychischen Störung auf diese Störung zurückzuführen sind.

Patienten, die sich wegen psychiatrischer Betreuung vorstellen, haben gelegentlich nichtdiagnostizierte körperliche Erkrankungen, die zwar nicht die Ursache ihrer psychischen Symptome sind, aber dennoch der Abklärung und Behandlung bedürfen. Solche Störungen können in keinem Zusammenhang mit der psychischen Störung stehen (z. B. Hypertonie, Angina pectoris) oder durch diese verursacht sein (z. B. Unterernährung aufgrund mangelnder Essensmotivation bei chronischer Schizophrenie) oder auf deren Behandlung zurückgeführt werden (z. B. Hypothyreose durch Lithium, Hyperlipidämie als Folge von atypischen Antipsychotika).

Tabelle
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Abklärung

Medizinische Beurteilung durch Anamnese, körperliche Untersuchung und häufig Bildgebung des Gehirns und Labortests (1) sind erforderlich bei Patienten mit

  • Neu aufgetretenen psychischen Symptomen (d. h. keine Vorgeschichte mit ähnlichen Symptomen)

  • Qualitativ unterschiedlichen oder unerwarteten Symptomen (d. h. bei einem Patienten mit einer bekannten oder stabilen psychischen Störung)

  • Psychische Symptome, die in einem unerwarteten Alter beginnen (z. B. neu aufgetretene Psychose bei einer älteren Person)

Das Ziel der medizinischen Beurteilung ist es, die körperlichen Grund- und Begleiterkrankungen zu diagnostizieren, anstatt eine spezifische psychiatrische Diagnose zu stellen.

Anamnese

Bei der medizinischen Vorgeschichte der bestehenden Krankheit sollte die Art der Symptome und deren Beginn beachtet werden, insbesondere ob die Symptome plötzlich oder allmählich eingesetzt haben und ob sie auf mögliche Auslöser hin aufgetreten sind (z. B. Trauma, Krankheit, An- oder Absetzen eines Arzneimittels oder einer Substanz). Der Arzt sollte fragen, ob die Patienten frühere Episoden mit ähnlichen Symptomen hatten, ob eine psychische Störung diagnostiziert und behandelt wurde, und, wenn ja, ob die Patienten aufgehört haben, ihre Medikamente einzunehmen.

Bei der Überprüfung der Organsysteme wird nach Symptomen gesucht, die für mögliche Ursachen sprechen:

  • Erbrechen, Durchfall oder beides: Dehydrierung, Elektrolytstörung

  • Palpitationen: Hyperthyreose, Drogen-/Arzneimittelwirkungen inkl. -entzug

  • Polyurie und Polydipsie: Diabetes mellitus

  • Tremores: M. Parkinson, Entzugssyndrome

  • Schwierigkeiten beim Gehen oder Sprechen: multiple Sklerose, M. Parkinson, Schlaganfall

  • Kopfschmerzen: Infektion des zentralen Nervensystems (ZNS), komplexe Migräne, Blutungen, Raumforderung

  • Fieber, Husten, Dysurie, Erbrechen oder Durchfall: Systemische Infektion

  • Gewichtsabnahme: Infektion, Krebserkrankung, chronisch entzündliche Darmerkrankung, Hyperthyreose

  • Parästhesien und Schwäche: Vitaminmangel, Schlaganfall, demyelinisierende Erkrankung

  • Schubförmig verlaufende neurologische Symptome: multiple Sklerose, Vaskulitis

Die Anamnese sollte bekannte körperliche Erkrankungen identifizieren, die psychische Symptome verursachen können (z. B. Schilddrüsen-, Leber- oder Nierenerkrankungen, Diabetes, HIV- oder COVID-19-Infektion). Alle verschreibungspflichtigen und freiverkäuflichen Medikamente sollten überprüft und die Patienten nach jeglichem Gebrauch von Alkohol oder illegalen Drogen (Menge und Dauer) gefragt werden. Die Familienanamnese bzgl. körperlicher Erkrankungen, insbesondere Erkrankungen der Schilddrüse und multiple Sklerose, wird erhoben. Risikofaktoren für eine Infektion (z. B. ungeschützter Sex, gemeinsame Benutzung von Nadeln, kürzlicher Krankenhausaufenthalt, Heimunterbringung) werden vermerkt.

Körperliche Untersuchung

Die Vitalfunktionen werden überprüft, insbesondere hinsichtlich Fieber, Tachypnoe, Hypertonie und Tachykardie. Der mentale Status wird erhoben, insbesondere bzgl. Anzeichen von Verwirrtheit oder Unaufmerksamkeit.

Eine vollständige körperliche Untersuchung wird durchgeführt, obwohl der Schwerpunkt auf Folgendem liegt

  • Anzeichen einer Infektion (z. B. Meningismus, Lungenstauung, Flankenempfindlichkeit)

  • Die neurologische Untersuchung (einschließlich Gangprüfung und Schwäche)

  • Funduskopie zur Erkennung von Anzeichen eines erhöhten intrakraniellen Drucks (z. B. Papillenschwellung, Verlust von venösen Pulsationen)

Zeichen einer Lebererkrankung (z. B. Gelbsucht, Aszites, Spider-Nävi) sind zu beachten. Die Haut wird sorgfältig bzgl. selbst zugefügter Wunden oder anderer Anzeichen eines externen Traumas (z. B. Blutergüsse) inspiziert.

Interpretation der Befunde

Die Befunde aus der Anamnese und der körperlichen Untersuchung tragen zur Interpretation von möglichen Ursachen bei und leiten weitere Tests und die Behandlung.

Verwirrung und Unaufmerksamkeit (verminderte Klarheit des Umweltbewusstseins, was auf Delirium hindeutet), insbesondere wenn plötzlich auftretende, schwankende oder beides auf das Vorhandensein einer körperlichen Störung hinweist. Das Gegenteil ist jedoch nicht der Fall (d. h. ein klares Sensorium bestätigt nicht, dass die Ursache eine psychiatrische Störung ist). Weitere Erkenntnisse, die für eine körperliche Ursache sprechen, sind

  • Abnorme Vitalparameter (z. B. Fieber, Tachykardie, Tachypnoe)

  • Meningeale Zeichen und Symptome (z. B. Kopfschmerzen, Photophobie, Nackensteifigkeit)

  • Anomalien, die während der neurologischen Untersuchung festgestellt werden, inkl. Aphasie

  • Gang- und/oder Gleichgewichtsstörungen

  • Inkontinenz

Einige Befunde stützen die Annahme einer spezifischen Ursache, v. a. wenn die Symptome und Beschwerden neu aufgetreten sind oder sich aus einem langjährigen Grundzustand heraus verändert haben.

  • Erweiterte Pupillen (insbesondere zusammen mit geröteter, heißer, trockener Haut): Anticholinerge Arzneimittelwirkungen.

  • Verengte Pupillen: Opioidwirkungen oder eine pontine Blutung.

  • Rotierender oder vertikaler Nystagmus: Phencyclidin-Intoxikation

  • Horizontaler Nystagmus: Häufig begleitet von Diphenylhydantointoxizität

  • Unverständliche Sprache oder die Unfähigkeit zur Sprachproduktion: Hirnschädigung (z. B. Schlaganfall).

  • Eine medizinische Vorgeschichte mit Schüben neurologischer Symptome, v. a. wenn eine Vielzahl von Nerven beteiligt zu sein scheint: Multiple Sklerose oder eine Vaskulitis.

  • Paresthesien mit einem Strumpf-Handschuh-Verteilungsmuster: Thiamin- oder Vitamin-B12-Mangel

Bei Patienten mit Halluzinationen ist der Typ der Halluzination nicht besonders diagnoseleitend, mit Ausnahme von Kommando-Halluzinationen oder Stimmen, die das Verhalten des Patienten kommentieren und wahrscheinlich eine psychische Störung repräsentieren.

Symptome, die kurz nach einem erheblichen Trauma oder nach Ansetzen eines neuen Medikaments eingesetzt haben, können auf diese Ereignisse zurückzufühen sein. Drogen- oder Alkoholkonsum kann, muss aber nicht die Ursache für psychische Symptome sein; etwa 10–45% der Patienten mit einer psychischen Störung (je nach Diagnose) haben auch eine Substanzgebrauchsstörung (Doppeldiagnose).

Tipps und Risiken

  • Eine Substanzstörung kann nicht die Ursache neuer psychischer Symptome sein; etwa 10 bis 45% der Patienten mit einer psychischen Störung haben auch eine Substanzstörung.

Interpretation der Befunde Referenz

  1. 1. Toftdahl NG, Nordentoft M, Hjorthøj C: Prevalence of substance use disorders in psychiatric patients: A nationwide Danish population-based study. Social psychiatry and psychiatric epidemiology. Soc Psychiatry Psychiatr Epidemiol 51(1):129-140, 2016. doi: 10.1007/s00127-015-1104-4.

Tests

Die Tests variieren je nach Anzeichen und Symptomen. Wenn bei Patienten mit einer bekannten psychischen Störung eine Verschlimmerung ihrer typischen Symptome auftritt und sie keine medizinischen Beschwerden, ein normales Sensorium und eine normale körperliche Untersuchung (einschließlich Vitalzeichen, Pulsoxymetrie und Glukosetests mit dem Finger) aufweisen, sind in der Regel keine weiteren Labortests erforderlich, außer vielleicht die Messung der therapeutischen Medikamentenspiegel.

Obwohl neu auftretende psychische Symptome oder deutliche Veränderungen in der Art der Symptome bei Patienten mit einer bekannten psychischen Störung eher auf eine medizinische als auf eine psychische Störung zurückzuführen sein können, ist unklar, wie häufig eine solche Störung asymptomatisch ist, und es gibt keinen Konsens über Routinelaboruntersuchungen bei medizinisch asymptomatischen Patienten. Einige Ärzte führen eine oder mehrere der folgenden Untersuchungen durch, um mögliche Erkrankungen zu erkennen:

  • Komplettes Blutbild

  • Elektrolytwerte (einschließlich Kalzium und Magnesium), Blut-Harnstoff-Stickstoff und Kreatinin

  • Blutkörperchensenkungsgeschwindigkeit oder C-reaktives Protein (CRP)

  • HIV-Test

  • Urinanalyse

Elektrolyt- und Nierenfunktionstests können diagnoseleitend sein und Informationen für das anschließende Medikamenten-Management beisteuern (z. B. bzgl. Medikamenten, die bei Patienten mit Niereninsuffizienz eingestellt werden müssen).

Bei Patienten mit Anzeichen oder Symptomen einer medizinischen Störung sollten entsprechende Tests durchgeführt werden, um diese Störung zu diagnostizieren:

  • CT des Kopfes: Patienten mit neu aufgetretenen psychischen Symptomen oder mit Delir, Kopfschmerzen, einem kürzlich stattgehabten Trauma oder fokalneurologischen Befunden (z. B. Schwäche in einer Extremität)

  • Lumbalpunktion: Patienten mit Meningitiszeichen oder mit unauffälligem CT des Kopfes plus Fieber, Kopfschmerzen oder Delir

  • Schilddrüsenfunktionstests: Patienten, die Lithium einnehmen, Patienten mit Symptomen oder Anzeichen einer Schilddrüsenerkrankung und Patienten > 40 Jahre mit neu aufgetretenen psychischen Symptomen (insbesondere Frauen oder Patienten mit einer Familienanamnese mit Schilddrüsenerkrankung)

  • Röntgenthorax: Patienten mit niedriger Sauerstoffsättigung, Fieber, produktivem Husten oder Hämoptyse

  • Blutkulturen: Schwerkranke Patienten mit Fieber

  • Lebertests: Patienten mit Symptomen oder Anzeichen von Lebererkrankungen, mit einer Anamnese mit Alkohol- oder Drogenkonsumstörung oder Patienten, deren Anamnese nicht zu bekommen ist

Weniger häufig können die Befunde nahelegen, Tests auf systemischen Lupus erythematodes, Syphilis, demyelinisierende Erkrankungen, Lyme-Krankheit oder Vitamin-B12- oder Thiaminmangel, insbesondere bei Patienten mit Anzeichen von Demenz, durchzuführen.

Ein toxikologisches Screening (z. B. Drogenscreening im Urin, Blutalkoholspiegel) wird durchgeführt, wenn der Patient in der jüngeren Vergangenheit Drogen konsumiert hat oder körperliche Anzeichen aufweist, die auf eine Intoxikation oder einen kürzlichen Drogenkonsum hindeuten (z. B. Einstichstellen).

Evaluationshinweis

  1. 1. Anderson EL, Nordstrom K, Wilson MP, et al: American Association for Emergency Psychiatry Task Force on Medical Clearance of Adults: Part I: Introduction, review and evidence-based guidelines. West J Emerg Med 18 (2):235–242, 2017. doi: 10.5811/westjem.2016.10.32258.