Überblick über Störungen des peripheren Nervensystems

VonMichael Rubin, MDCM, New York Presbyterian Hospital-Cornell Medical Center
Überprüft/überarbeitet März 2024
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Das periphere Nervensystem bezieht sich auf Teile des Nervensystems außerhalb des Gehirns und des Rückenmarks. Dazu gehören die Hirn- und die Spinalnerven von ihrem Ursprung bis zu ihrem Endpunkt. Die Vorderhornzellen werden, obwohl sie formal ein Teil des Zentralnervensystems (ZNS) sind, manchmal zusammen mit dem peripheren Nervensystem behandelt, da sie zur motorischen Einheit gehören.

Die Dysfunktion von Motoneuronen führt zu Muskelschwäche oder Lähmung. Die Dysfunktion sensorischer Neuronen führt zu anormaler oder fehlender Empfindung. Einige Störungen verlaufen progressiv und sind tödlich.

Anatomie der peripheren Nerven

Eine Motoreinheit besteht aus

  • Eine Vorderhornzelle

  • Sein Motor Axon

  • Die Muskelfasern, die es anregt

  • Die Verbindung dazwischen (neuromuskuläre Endplatte)

Die Vorderhornzellen sind in der grauen Substanz des Rückenmarks lokalisiert und somit formal ein Teil des ZNS. Im Gegensatz zum motorischen System liegen die Zellkörper der afferenten sensorischen Fasern außerhalb des Rückenmarks in den Spinalganglien.

Nervenfasern außerhalb des Rückenmarks verbinden sich zu vorderen (ventralen) motorischen Nervenwurzeln und hinteren (dorsalen) sensorischen Nervenwurzeln. Die Vorder- und Hinterwurzeln bilden gemeinsam einen Spinalnerven. 30 der 31 Spinalnervenpaare haben dorsale und ventrale Wurzeln; C1 hat keine sensorische Wurzel (siehe Abbildung Spinalnerv).

Spinalnerv

Die Spinalnerven verlassen die Wirbelsäule über ein Foramen intervertebrale. Weil das Rückenmark kürzer ist als die Wirbelsäule, liegen nach kaudal die Foramina zunehmend weiter vom ursprünglichen Segment entfernt. Im Lumbosakralbereich steigen somit die Nervenwurzeln der unteren Segmente innerhalb des Wirbelkanals in einem nahezu vertikalen Bündel ab und bilden die Cauda equina. Gleich hinter dem Foramen intervertebrale verzweigen sich die Spinalnerven in mehrere Teile.

Äste der zervikalen und lumbosakralen Spinalnerven anastomosieren peripher in die Nervenplexus und verzweigen sich dann in Nervenstämme, die in bis zu 1 m Entfernung in peripheren Strukturen enden (siehe Abbildung Plexus). Die Interkostalnerven sind segmental gegliedert.

Plexus

Als peripherer Nerv wird der Teil des Spinalnerven distal von Wurzel und Plexus bezeichnet. Periphere Nerven sind Bündel von Nervenfasern, die einen Durchmesser von 0,2 bis 18 mcm haben. Schwann-Zellen bilden eine dünne zytoplasmatische Röhre um jede Faser und umwickeln außerdem dickere Fasern mit einer mehrschichtigen Isoliermembran (Myelinscheide).

Physiologie der peripheren Nerven

Die Myelinscheide verbessert die Erregungsleitung. Die größten und am stärksten myelinisierten Fasern leiten schnell; sie übertragen motorische, Berührungs- und propriozeptive Impulse. Die weniger myelinisierten und unmyelinisierten Fasern leiten langsamer; sie leiten Schmerz-, Temperatur- und autonome Impulse.

Da Nerven stoffwechselaktive Gewebe sind, benötigen sie Nährstoffe, die durch kleine Blutgefäße, genannt Vasa nervorum, bereitgestellt werden.

Ätiologie von Störungen peripherer Nerven

Periphere Nervenstörungen können aus der Beschädigung oder Fehlfunktion von einem der Folgenden resultieren:

  • Zellkörper

  • Myelinscheide

  • Axone

  • Neuromuskuläre Endplatte

Die Störungen können genetisch bedingt sein oder erworben (aufgrund von toxischen, metabolischen, traumatischen, infektiösen oder entzündlichen Ursachen–siehe Tabelle Einige Ursachen für Störungen des peripheren Nervensystems).

Periphere Neuropathien können betreffen

Es kann mehr als eine Lokalisation beeinflusst werden; bei der häufigsten Variante des Guillain-Barré-Syndroms können z. B. mehrere Hirnnervensegmente, üblicherweise die beiden Fazialisnerven, betroffen sein.

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Pathophysiologie von Störungen peripherer Nerven

Da sensorische und motorische Zellkörper an verschiedenen Stellen lokalisiert sind, betrifft eine Störung von Nervenzellkörpern typischerweise entweder die sensorische oder die motorische Komponente, jedoch selten beide.

Schädigung

Eine Schädigung der Myelinscheide (Demyelinisierung) verlangsamt die Nervenleitung. Die Demyelinisierung betrifft vorwiegend die stark myelinisierten Fasern und verursacht sensorische Ausfälle der großen Fasern (Kribbeln und Elektrisieren), motorische Schwäche und verringerte Muskeleigenreflexe. Kennzeichen der erworbenen demyelinisierenden Polyneuropathie ist eine schwere motorische Schwäche mit minimaler Atrophie.

Da die Vasa nervorum am weitesten vom Zentrum eines Nervs entfernt sind, sind zentral gelegene Faszikel am anfälligsten für Gefäßstörungen (z. B. Vaskulitis, Ischämie). Diese Störungen führen zu einer sensorischen Dysfunktion der kleinen Fasern (scharfe Schmerzen und brennende Missempfindungen, vermindertes Temperaturempfinden), zu motorischer Schwäche, die proportional zur Atrophie ist, und zu weniger schweren Reflexanomalien als bei anderen Nervenstörungen. Die beiden distalen Drittel einer Extremität sind am häufigsten betroffen. Zu Beginn sind die Defizite aufgrund der zufälligen Verteilung der Vaskulitis oder des ischämischen Prozesses eher asymmetrisch. Später können die multiplen Infarkte verschmelzen und symmetrische Defizite (Polyneuropathie) verursachen.

Toxisch-metabolische oder genetische Störungen beginnen üblicherweise symmetrisch. Immunvermittelte Prozesse können symmetrisch sein oder, zu Beginn sich schnell entwickelnder Prozesse, auch asymmetrisch.

Eine Schädigung des axonalen Transportsystems für zelluläre Bestandteile, v. a. der Mikrotubuli und Mikrofilamente, verursacht eine erhebliche axonale Funktionsstörung. Zuerst sind die dünneren Fasern in den am weitesten distal liegenden Teilen des Nervs betroffen (weil sie einen höheren metabolischen Bedarf haben). Danach aszendiert die axonale Degeneration langsam und ruft dabei die charakteristischen von distal nach proximal reichenden Symptommuster hervor (strumpf- und handschuhförmige Sensibilitätsstörungen, gefolgt von Schwäche).

Regeneration

Eine Schädigung der Myelinscheide (z. B. durch eine Verletzung oder bei Guillain-Barré-Syndrom) kann von überlebenden Schwann-Zellen oft innerhalb von 6–12 Wochen repariert werden.

Nach einer axonalen Schädigung wächst die Faser innerhalb der durch die Schwann-Zelle gebildeten Röhre mit einer Geschwindigkeit von 1 mm/Tag nach, sobald der pathologische Prozess beendet ist. Jedoch kann die Aussprossung fehlgeleitet sein und zu einer aberranten Innervation führen (z. B. von Fasern im falschen Muskel, eines Berührungsrezeptors am falschen Ort oder eines Temperatur- anstelle eines Berührungsrezeptors).

Regeneration ist unmöglich, wenn der Zellkörper abstirbt, und unwahrscheinlich, wenn das Axon komplett verloren geht.

Evaluation von Störungen peripherer Nerven

  • Bestimmung der Defizite anhand von Anamnese und Untersuchung

  • Beachten der klinischen Hinweise auf Störungen des peripheren Nervensystems

  • Üblicherweise Untersuchungen der Nervenleitung und Elektromyographie

  • Manchmal Stanzbiopsie von Nerv oder Haut

  • Gentests (bei erblichen Neuropathien)

Klinische Beurteilung

Die Anamneseerhebung sollte abzielen auf die Art der Symptome, den Beginn, die Progression und die Lokalisation sowie auf Informationen zu möglichen Ursachen (z. B. Familienanamnese, Exposition gegenüber Toxinen, zurückliegende Erkrankungen).

Körperliche und neurologische Untersuchung sollten die Art des Defizits (z. B. motorisches Defizit, Art des sensorischen Ausfalls, Kombination beider) weiter präzisieren. Folgende Funktionen werden ausgewertet:

  • Sensorik (mithilfe einer Nadel und Temperatur für dünne Fasern; mithilfe von Vibration und Tests zur Propriozeption bei dicken Fasern).

  • Motorische Stärke (Feststellen, ob die motorische Schwäche proportional zum Atrophiegrad ist)

  • Tiefe Sehnenreflexe (Art und Verteilung der Reflexanomalien beachten)

  • Hirnnerven

  • Funktion zentraler und peripherer Nerven

  • Autonome Funktion

Die Ärzte sollten basierend auf dem Muster und der Art der neurologischen Defizite von einer Störung des peripheren Nervensystems ausgehen, v. a. bei Lokalisation der Defizite bei einzelnen Nervenwurzeln, Spinalnerven, Plexus, bestimmten peripheren Nerven oder einer Kombination davon. Verdacht auf diese Störungen besteht auch bei Patienten mit gemischten sensorischen und motorischen Ausfällen, mit mehreren Foci oder mit einem Fokus, der nicht zu einer einzelnen anatomischen Stelle im ZNS passt.

Bei Patienten mit generalisierter oder diffuser Schwäche, jedoch ohne sensorische Ausfälle, sollten die Ärzte ebenfalls Störungen des peripheren Nervensystems annehmen; in diesen Fällen können Störungen des peripheren Nervensystems übersehen werden, weil sie für solche Symptome nicht die wahrscheinlichste Ursache darstellen.

Hinweise auf eine Störung des peripheren Nervensystems als mögliche Ursache allgemeiner Schwäche sind:

  • Muster allgemeiner Schwäche, die für eine spezifische Ursache sprechen (z. B. vorherrschende Ptosis und Diplopie, was auf eine frühe Myasthenia gravis hinweist)

  • Andere Anzeichen und Symptome als Schwäche, die auf eine bestimmte Erkrankung oder eine Gruppe von Störungen hindeuten (z. B. cholinerge Effekte, die eine Organophosphatvergiftung nahelegen)

  • Strumpf-/Handschuhförmiges Verteilungsmuster der Ausfälle, das für diffuse axonale Störungen oder eine Polyneuropathie spricht

  • Faszikulationen

  • Hypotonie

  • Muskelschwund ohne Hyperreflexie

  • Progressive, chronische und unerklärte Schwäche

Zu den Hinweisen darauf, dass die Ursache keine Störung des peripheren Nervensystem sein kann, gehören

  • Hyperreflexie

  • Hypertonie

  • Clonus

  • Extensor-Plantar-Reflexe (z. B. Babinski-Zeichen)

Diese Defizite deuten auf eine Störung der oberen Motoneuronen als Ursache der Schwäche hin. Hyporeflexie steht im Einklang mit Defiziten des peripheren Nervensystems, ist aber unspezifisch. So kann beispielsweise eine akute zervikale transversale Myelitis das Guillain-Barré-Syndrom imitieren, insbesondere bei Patienten mit vorbestehender Neuropathie.

Trotz vieler möglicher Ausnahmen können bestimmte klinische Anhaltspunkte auch auf eventuelle Ursachen für Defizite des peripheren Nervensystems hinweisen (siehe Tabelle Klinische Hinweise auf Ursachen von Störungen des peripheren Nervensystems).

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Die klinische Beurteilung engt die diagnostischen Möglichkeiten ein und leitet dadurch die weiteren Untersuchungen.

Tests

In der Regel werden Untersuchungen der Nervenleitung und eine Elektromyographie (hier mit dem Sammelbegriff elektrodiagnostische Testung bezeichnet) durchgeführt. Diese Tests helfen bei Follgendes:

  • Unterscheiden Sie Störungen des peripheren Nervensystems von Erkrankungen der neuromuskulären Endplatte und Muskelerkrankungen

  • Lokalisierung des Ortes der Erkrankung des peripheren Nervensystems (z. B. Wurzel, Plexus, peripherer Nerv)

  • Unterscheidung zwischen demyelinisierenden Störungen (sehr langsame Reizleitung) und axonalen Störungen

Patienten mit Schwäche, aber ohne sensorischen Defizite, können mit elektrodiagnostischen Tests bewertet werden.

Andere Tests, wie die Bildgebung, richten sich danach, ob eine ZNS-Läsion auszuschließen ist (z. B. MRT, wenn alle Extremitäten betroffen sind, um eine zervikale Rückenmarkkompression auszuschließen).

Eine Nervenbiopsie wird gelegentlich durchgeführt, um die Unterscheidung von demyelinisierenden und vaskulitischen Neuropathien dicker Fasern zu unterstützen. Wenn Vaskulitis eine Überlegung ist, sollte die Biopsie Haut und Muskel beinhalten, um die Wahrscheinlichkeit für eine endgültige Diagnose zu erhöhen. Besteht der Verdacht auf eine kleinfaserige Neuropathie, kann eine Stanzbiopsie der Haut durchgeführt werden; der Verlust von Nervenenden und Schweißdrüsen unterstützt diese Diagnose.

Tipps und Risiken

  • Sind die klinischen Befunde und elektrodiagnostischen Testergebnisse nicht aussagekräftig, führen Sie eine Biopsie durch (Nervenbiopsie bei V. a. Neuropathie dicker Fasern oder Stanzbiopsie der Haut bei V. a. Small fiber Neuropathie)

  • Wenn alle Gliedmaßen betroffen sind, sollte ein MRT in Erwägung gezogen werden, um zervikale Rückenmarkskompression auszuschließen.

Gentests sind angezeigt, wenn eine erbliche Neuropathie vermutet wird.

Behandlung von Störungen peripherer Nerven

  • Behandlung der zugrunde liegenden Erkrankung

  • Unterstützende Behandlung, oft durch ein multidisziplinäres Team

Die Behandlung einer peripheren Nervenerkrankung richtet sich, wenn möglich, auf die Grunderkrankung. Andernfalls ist die Behandlung unterstützend. Ein multidisziplinärer Behandlungsansatz im Team hilft den Patienten, mit den fortschreitenden neurologischen Behinderungen umzugehen:

  • Physiotherapeuten können die Patienten dabie unterstützen, die Muskelfunktion zu erhalten.

  • Ergotherapeuten können adaptive Schienen und Gehhilfen anpassen, um die Aktivitäten des täglichen Lebens leichter zu machen.

  • Spezialisierte Logopäden können alternative Kommunikationshilfen zur Verfügung stellen.

  • Wenn sich pharyngeale Schwäche entwickelt, können ein Sprachtherapeut oder ein multidisziplinäres Team, das auf Schluckbeschwerden spezialisiert ist, helfen die Gefahr von Aspiration zu beurteilen und Maßnahmen zur Prävention empfehlen (z. B. Vorsichtsmaßnahmen für die orale Nahrungsaufnahme und/oder Notwendigkeit für Sondenernährung).

  • Ein Gastroenterologe kann eine perkutane endoskopische Gastrostomie empfehlen.

  • Wenn sich eine respiratorische Schwäche entwickelt, wird die forcierte Vitalkapazität gemessen und Lungenspezialisten oder Intensivmediziner helfen festzustellen, ob eine Intensivpflege, nichtinvasive Atemunterstützung (z. B. Bilevel Positive Airway Pressure, BIPAP) oder eine Tracheotomie mit vollständiger Beatmung notwendig sind.

Früh im Verlauf tödlicher Erkrankungen müssen die betreuenden Ärzte offen mit den Patienten, den Familienangehörigen und den Pflegepersonen über den für sie akzeptablen Grad der Interventionen sprechen. Die Patienten werden aufgefordert, ihre Entscheidungen schriftlich festzuhalten (Vorsorgeverfügungen), bevor sie berufsunfähig werden. Diese Entscheidungen sollten in den verschiedenen Stadien der Krankheit immer wieder überdacht und ggf. bestätigt werden.

Wichtige Punkte

  • Störungen des peripheren Nervensystems werden oft basierend auf klinischen Befunden angenommen (z. B. Strumpf-/Handschuhförmiges Verteilungsmuster, Hyporeflexie, distale Muskelschwäche und -schwund, Lokalisation zu einem peripheren Innervationsgebiet).

  • Haben die Patienten eine massive motorische Schwäche mit minimaler Atrophie und Areflexie, erwägen Sie eine demyelinisierende Polyneuropathie.

  • Weisen die Patienten abnorme Schmerz- und abweichende Temperaturempfindungen sowie eine Atrophie proportional zur Schwäche (manchmal mit unverhältnismäßiger Erhaltung von Reflexen) auf, sollten Sie eine vaskulitische oder ischämische Neuropathie in Betracht ziehen.

  • Bedenken Sie bei Patienten mit chronisch fortschreitender Muskelschwäche, Faszikulationen, Muskelatrophie und ohne sensorische Defizite eine Motoneuronenerkrankung.

  • Untersuchungen der Nervenleitung und Elektromyographie sind hilfreich, um die beiteiligte Ebene zu identifizieren (Wurzel, Plexus, peripherer Nerv, neuromuskuläre Endplatte, Muskelfaser), und tragen zur Unterscheidung von demyelinisierenden und axonalen Störungen bei.