Polyneuropathie

VonMichael Rubin, MDCM, New York Presbyterian Hospital-Cornell Medical Center
Überprüft/überarbeitet März 2024
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Eine Polyneuropathie ist eine diffuse periphere Nervenerkrankung, die nicht auf das Innervationsgebiet eines einzelnen Nervs oder einer Extremität begrenzt und in der Regel relativ symmetrisch beidseitig ist. Die elektrodiagnostische Testung sollte immer durchgeführt werden zur Klassifizierung der betroffenen Nervenstrukturen, der Ausbreitung und der Schwere der Störung und zur Identifikation der Ursache. Die Behandlung ist auf die Beseitigung der Ursache ausgerichtet.

Einige Polyneuropathien betreffen hauptsächlich motorische Fasern. Diese umfassen:

Andere betreffen hauptsächlich sensorische Fasern. Diese umfassen:

Einige Störungen können auch die Hirnnerven betreffen. Diese umfassen:

Bestimmte Medikamente und Toxine können sensorische und/oder motorische Fasern (siehe Tabelle Toxische Ursachen von Neuropathien) betreffen.

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Symptome und Anzeichen einer Polyneuropathie

In Abhängigkeit von der Ursache können die Symptome einer Poyneuropathie plötzlich auftreten oder sich langsam entwickeln und chronisch werden. Weil die Pathophysiologie und die Symptome zusammenhängen, können Polyneuropathien häufig durch das Störungsareal klassifiziert werden:

  • Myelin

  • Vasa nervorum

  • Axon

Polyneuropathien können erworben oder vererbt sein.

Myelinfunktionsstörungen

Polyneuropathien durch Myelinfunktionsstörungen (Demyelinisierung) sind häufig das Ergebnis einer parainfektiösen Immunreaktion, die durch eingekapselte Bakterien (z. B. Campylobacter sp.), Viren (z. B. Entero- oder Influenzaviren, HIV) oder Vakzine (z. B. Influenza-Impfstoff) ausgelöst wird. Vermutlich gibt es Kreuzreaktionen zwischen Antigenen in diesen Agenzien mit Antigenen im peripheren Nervensystem, die eine Immunreaktion verursachen (zellulär, humoral oder beides), die in verschiedenen Graden einer Myelinfunktionsstörung kulminiert.

In akuten Fällen (z. B. bei Guillain-Barré-Syndrom) können sich sehr schnell eine progressive Parese und Atemversagen entwickeln. Bei chronisch entzündlicher demyelinisierender Polyneuropathie (CIDP) können die Symptome wiederkehren oder über Monate und Jahre fortschreiten.

Eine Myelinfunktionsstörung führt in der Regel zu sensiblen Störungen (Parästhesien) der dicken Fasern, zu signifikanter Muskelschwäche, die größer ist als das erwartete Ausmaß der Atrophie, und zu stark abgeschwächten Reflexen. Rumpfmuskulatur und Hirnnerven können beteiligt sein. Die Demyelinisierung erstreckt sich typischerweise über die gesamte Länge des Nervs und verursacht proximale und distale Symptome. Es können Seitenasymmetrien vorliegen, und die oberen Körperpartien können vor den unteren betroffen sein oder umgekehrt. Muskeltonus und -profil sind relativ gut erhalten.

Störungen der Vasa nervorum

Chronische arteriosklerotische Ischämie, Vaskulitis, Infektionen und Hyperkoagulabilität des Blutes können die Gefäßversorgung von Nerven stören und eine Infarzierung der Nerven verursachen.

Meist tritt zunächst eine sensible und motorische Funktionsstörung der dünnen Fasern auf. Die Patienten haben typischerweise schmerzhafte, häufig brennende sensible Störungen. Schmerz- und Temperatursinn sind unzureichend.

Eine Beteiligung der Vasa nervorum (z. B. verursacht durch Vaskulitis oder Infektionen) kann in Form von multiplen Mononeuropathien beginnen, die, wenn viele Nerven beidseitig betroffen sind, wie eine Polyneuropathie aussehen können. Die Anomalien sind zu Beginn der Störung tendenziell asymmetrisch und betreffen kaum das proximale Drittel der Extremitäten- oder Rumpfmuskeln. Eine Beteiligung des kranialen Nervs ist selten, außer bei Diabetes, der häufig den 3. kranialen (okulomotorischen) Nerv und, etwas seltener, den 6. kranialen (abduzierenden) Nerv betrifft. Später, wenn Nervenläsionen verschmelzen, können die Symptome und Beschwerden symmetrisch erscheinen.

Manchmal kommen eine Störung des autonomen Nervensystems und trophische Störungen der Haut (z. B. Atrophie, Papierhaut) vor.

Die Muskelschwäche ist eher proportional zur Atrophie, und die Reflexe sind meist nicht völlig erloschen.

Axonopathie

Axonopathien sind eher distal lokalisiert, sie können symmetrisch oder asymmetrisch sein.

Symmetrische Axonopathien entstehen oft durch toxisch-metabolische Störungen. Häufige Ursachen sind:

Die Axonopathie kann eine Folge von Ernährungsdefiziten sein (am häufigsten Thiamin oder Vitamin B6, Vitamin B12 oder Vitamin E) oder durch exzessive Aufnahme von Vitamin B6 oder Alkohol entstehen. Seltenere metabolische Ursachen sind Hypothyreose, Porphyrie, Sarkoidose und Amyloidose. Andere Ursachen können bestimmte Infektionen (z. B. Lyme-Krankheit), Substanzen (z. B. Stickstoffmonoxid) und die Exposition gegenüber bestimmten Chemikalien (z. B. Agent Orange, n-Hexan) oder Schwermetallen (z. B. Blei, Arsen, Quecksilber) sein.

Bei einem paraneoplastischen Syndrom in Assoziiation mit einem kleinzelligen Bronchialkarzinom führt der Ausfall der Hinterwurzelganglien und ihrer sensorischen Axone zu einer subakuten sensorischen Polyneuropathie.

Primäre axonale Funktionsstörungen können mit Symptomen einer Störung dicker und/oder dünner Fasern beginnen. Üblicherweise weist die resultierende Neuropathie ein distales, symmetrisches, strumpf- oder handschuhförmiges Verbreitungsmuster auf; sie betrifft gleichmäßig die unteren vor den oberen Extremitäten und schreitet symmetrisch von distal nach proximal fort.

Asymmetrische Axonopathien können die Folge von parainfektiösen oder vaskulären Störungen sein.

Diagnose von Polyneuropathie

  • Elektrodiagnostische Testung

  • Labortests, die durch den vermuteten Typ der Neuropathie festgelegt werden

Eine Polyneuropathie ist bei Patienten mit diffusen oder multifokalen sensorischen Defiziten, Schwäche ohne Hyperreflexie oder beidem anzunehmen. Wenn die Befunde allerdings relativ diffus sind, aber asymmetrisch begonnen haben, kann die Ursache eine multiple Mononeuropathie sein. Ärzte müssen die Patienten um eine gründliche Beschreibung des Symptombeginns bitten, um festzustellen, ob die Symptome symmetrisch oder asymmetrisch begannen. Beispielsweise sollten die Patienten gefragt werden, ob die Symptome in beiden Füßen etwa gleichzeitig (symmetrisch) oder in einem Fuß, dann in einer Hand, dann im anderen Fuß (asymmetrisch) auftraten.

Tipps und Risiken

  • Wenn die Befunde im Einklang mit einer Polyneuropathie stehen, versuchen Sie festzustellen, ob die Symptome asymmetrisch begonnen haben (was möglicherweise auf eine multiple Mononeuropathie hindeutet).

Klinische Befunde, v. a. wie schnell die Störung eingesetzt hat, unterstützen die Ärzte bei der Diagnosestellung und der Identifikation der Ursache der Polyneuropathie wie folgt:

  • Asymmetrische Neuropathien deuten auf eine Vaskulitis hin.

  • Symmetrische, distale Neuropathien sprechen für toxische oder metabolische Ursachen.

  • Langsam fortschreitende, chronische Neuropathien sind eher vererbt oder Folge von toxischer Langzeitexposition oder metabolischen Störungen.

  • Akute Neuropathien sprechen für eine autoimmune Ursache, eine Vaskulitis, ein Toxin, eine Infektion oder eine postinfektiöse Ursache oder möglicherweise ein Arzneimittel oder eine Krebserkrankung.

  • Hauteffloresenzen, Hautulzera und ein Raynaud-Syndrom bei Patienten mit asymmetrischer axonaler Neuropathie deuten auf eine Hyperkoagulabilität des Blutes oder eine parainfektiöse oder autoimmune Vaskulitis hin.

  • Gewichtsabnahme, Fieber, Lymphadenopathie und Massenläsionen sprechen für einen Tumor oder ein paraneoplastisches Syndrom.

Axonopathien sollten bei allen Patienten mit Polyneuropathie in Betracht gezogen werden.

Elektrodiagnostische Testung

Unabhängig von den klinischen Befunden sind Elektromyographie (EMG) und Nervenleitfähigkeitsuntersuchungen notwendig, um die Art der Neuropathie zu klassifizieren und den Ärzten zu helfen, die Labortests auf die möglichen Ursachen abzustimmen. Zumindest sollte ein EMG von beiden unteren Extremitäten durchgeführt werden, um eine Asymmetrie und das gesamte Ausmaß des Axonverlusts zu überprüfen.

Weil Untersuchungen der Nervenleitung vorrangig dicke myelinisierte Fasern in den distalen Extremitäten beurteilen, könne sie bei Patienten mit proximaler Myelinfunktionsstörung (z. B. früh im Verlauf eines Guillain-Barré-Syndroms) und bei Patienten mit primärer Funktionsstörung von dünnen unmyelinisierten Fasern normal ausfallen. In solchen Fällen können je nach den vorliegenden Symptomen quantitative sensorische oder autonome Tests, die in spezialisierten Testzentren durchgeführt werden, oder eine Hautstanzbiopsie durchgeführt werden.

Labortests

Baseline-Labortests für alle Patienten umfassen

  • Komplettes Blutbild

  • Elektrolyte

  • Nierenfunktionstests

  • Rapid-Plasma-Protein-Test

  • Messung der Nüchternplasmaglukose, des glykosylierten Hämoglobins (HbA1C) und manchmal ein zweistündiger Glukosetoleranztest

  • Vitamin-B12- und Folatspiegel

  • Thyreoidea-stimulierendes Hormon (TSH)

Einige Ärzte schließen eine Serumproteinelektrophorese ein, insbesondere wenn Patienten eine schmerzhafte sensorische Neuropathie haben, die nicht durch Diabetes erklärt werden kann. Die Notwendigkeit anderer Untersuchungen wird durch den Polyneuropathie-Subtyp (groß- oder kleinfaserig) bestimmt. Wenn die elektrodiagnostischen Tests und die klinische Differenzierung nicht schlüssig sind, können Tests für alle Subtypen erforderlich sein.

Die Vorgehensweise bei Patienten mit akuten Neuropathien durch Myelinfunktionsstörung ist dieselbe wie bei Patienten mit Guillain-Barré-Syndrom: die forcierte Vitalkapazität wird gemessen, um ein drohendes Atemversagen zu überprüfen. Bei akuten oder chronischen Myelinfunktionsstörungen werden Untersuchungen auf Infektionskrankheiten und Immunstörungen, inkl. Untersuchungen auf Hepatitis und HIV, und eine Serumelektrophorese durchgeführt. Auch eine Lumbalpunktion sollte durchgeführt werden; eine Myelinfunktionsstörung aufgrund einer Autoimmunreaktion verursacht häufig eine zytoalbuminäre Dissoziation: erhöhtes Liquorprotein (> 45 mg%), jedoch normale Leukozytenwerte ( 5/mcl).

Bei Schädigung der Vasa nervorum oder asymmetrischen axonalen Polyneuropathien sollten Untersuchungen auf Hyperkoagulabilität des Blutes und parainfektiöse oder autoimmune Vaskulitis durchgeführt werden, v. a. wenn dies aufgrund der klinischen Befunde vermutet werden kann. Das Minimum an Tests beinhaltet

  • Blutkörperchensenkungsgeschwindigkeit

  • Serum-Protein-Elektrophorese

  • Messung des Rheumafaktors, der antinukleären Antikörper und von Kreatinkinase im Serum

Die CK kann bei schnellem Beginn der Krankheit als Folge einer Muskelschädigung erhöht sein.

Weitere Untersuchungen hängen von der vermuteten Ursache ab.

  • Gerinnungstests (z. B. Spiegel von Protein C, Protein S, Antithrombin III, Anticardiolipin-Antikörpern und Homocystein) sollten nur dann durchgeführt werden, wenn anamnestische oder familienanamnestische Hinweise auf eine Hyperkoagulabilität des Blutes vorliegen.

  • Tests auf Sarkoidose, Hepatitis C oder Granulomatose mit Polyangiitis (früher bekannt als Wegener-Granulomatose) sollten nur durchgeführt werden, wenn die Symptomatik eine dieser Störungen nahelegt.

  • Wenn keine Ursache identifiziert wird, sollte eine Nerven- und Muskelbiopsie durchgeführt werden.

In der Regel wird ein betroffener N. suralis biopsiert. Es kann ein Muskelstück neben dem biopsierten N. suralis oder ein Stück aus den Mm. quadriceps femoris, biceps brachii oder deltoideus biopsiert werden. Gewählt werden sollte ein Muskel mit mäßiger Parese, der vorher nicht mit einem Nadel-EMG untersucht wurde (um eine Verwechslung mit Artefakten durch die Nadel zu vermeiden). Eine Anomalie wird häufiger erkannt, wenn der kontralaterale Muskel EMG-Anomalien aufweist, insbesondere wenn die Neuropathie einigermaßen symmetrisch ist. Nervenbiopsien sind nützlich bei symmetrischen und asymmetrischen Polyneuropathien, sie haben jedoch besonderen Nutzen bei asymmetrischen Axonopathien.

Wenn die ersten Tests die Ursache der distalen symmetrischen Axonopathien nicht aufzeigen, können die Blutwerte gemessen oder eine 24-Stunden-Urinsammlung zur Untersuchung auf Schwermetalle durchgeführt werden. Die Untersuchung von Haaren oder Nägeln kann Schwermetalle als Ursache bestätigen.

Ob Tests auf andere Ursachen benötigt werden, hängt von der Anamnese und den Befunden der körperlichen Untersuchung ab.

Behandlung der Polyneuropathie

  • Die Behandlung ist kausal ausgerichtet.

  • Unterstützende Behandlung

Die Behandlung einer Poyneuropathie zielt nach Möglichkeit auf die Korrektur der Ursachen ab; ein verursachendes Medikament oder Toxin kann eliminiert oder ein Ernährungsdefizit ausgeglichen werden. Auch wenn diese Maßnahmen eine Progression verhindern und Symptome lindern können, verläuft die Genesung meist langsam und kann unvollständig bleiben.

Wenn die Ursache nicht korrigiert werden kann, zielt die Behandlung auf die Minimierung der Behinderung und der Schmerzen ab. Physio- und Ergotherapeuten können nützliche technische Hilfen empfehlen. Trizyklische Antidepressiva wie Amitriptylin oder Antiepileptika wie Gabapentin eignen sich zur Linderung neuropathischer Schmerzen (z. B. brennende Füße bei Diabetes).

Für Polyneuropathien durch Myelinfunktionsstörungen werden üblicherweise Behandlungen eingesetzt, die das Immunsystem modulieren:

  • Plasmaaustausch oder IV-Immunglobulin bei akuter Myelinfunktionsstörung

  • Plasmaaustausch oder IV Immunglobulin, Kortikosteroide oder Antimetaboliten bei chronischer Myelinfunktionsstörung

Wichtige Punkte

  • Gehen Sie von einer Polyneuropathie aus bei Patienten mit diffusen sensiblen Defiziten, Schwäche ohne Hyperreflexie oder beidem.

  • Anhand der klinischen Befunde, insbesondere des zeitlichen Verlaufs, des Fortschreitens und der Verteilung der sensorischen und/oder motorischen Defizite, lassen sich Polyneuropathien klassifizieren und mögliche Ursachen ermitteln.

  • Führen Sie bei allen Patienten mit Polyneuropathie eine Elektromyographie und Untersuchungen der Nervenleitfähigkeit durch und stimmen Sie die Laboruntersuchungen auf mögliche Ursachen ab.

  • Es erfolgt eine ursächliche Behandlung der Polyneuropathie.

  • Verabreichen Sie immunsystemmodifizierende Behandlungen (IVIG, Plasmaaustausch, Kortikosteroide, Antimetaboliten) zur Behandlung von Polyneuropathien mit Myelinfunktionsstörungen.

  • Behandeln Sie neuropathische Schmerzen mit trizyklischen Antidepressiva oder Antiepileptika; minimieren Sie Behinderungen durch Physio- und Ergotherapie.