Geistige Behnderung (Intellectual Disability)

VonStephen Brian Sulkes, MD, Golisano Children’s Hospital at Strong, University of Rochester School of Medicine and Dentistry
Überprüft/überarbeitet Apr. 2024
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Eine geistige Behinderung ist charakterisiert durch eine deutlich unterdurchschnittliche Intelligenz (IQ < 70–75) mit einer Beeinträchtigung von adaptiven Fähigkeiten (d. h. Kommunikation, Selbstversorgung, Benutzung von Gemeinschaftseinrichtungen, Selbstbestimmung, Gesundheit und persönliche Sicherheit) zusammen mit einem nachgewiesenen Bedarf an Unterstützung. Die Therapie besteht in Förderung, Familienberatung und sozialer Unterstützung.

Geistiger Behinderung wird als eine Erkrankung des Nervensystems betrachtet. Störungen der neurologischen Entwicklung sind neurologisch bedingte Umstände, die früh in der Kindheit auftreten, in der Regel vor dem Schuleintritt und die Entwicklung von persönlicher, sozialer, akademischer und/oder beruflicher Funktionsfähigkeit beeinflussen. Sie beinhalten in der Regel Schwierigkeiten beim Erwerb, bei der Aufrechterhaltung oder Anwendung besonderer Fähigkeiten oder von Reihen von Informationen. Störungen bei der Entwicklung des Nervensystems können eine Dysfunktion in einem oder mehreren der folgenden Bereiche zur Folge haben: in der Aufmerksamkeit, im Gedächtniss, in der Wahrnehmung, in der Sprache, im Problemlösen und in der sozialen Interaktion. Zu den anderen häufigen neurologischemn Entwicklungsstörungen gehören Aufmerksamkeits-Defizit-Hyperaktivitäts-Störung, Autismus-Spektrum-Störungen sowie Lernstörungen (z. B. Dyslexie)

Die geistige Behinderung muss in der Kindheit einsetzende Defizite in beiden folgenden Bereichen aufweisen:

  • Intellektuelle Funktionen (z. B. Argumentation, Planung und Problemlösung, abstraktes Denken, Lernen in der Schule oder aus Erfahrungen)

  • Adaptiv funktionierend (d. h. Fähigkeit alters- und soziokulturell angemessenen Standards für unabhängiges Arbeiten in den Aktivitäten des täglichen Lebens gerecht zu werden)

Die Schwere der Erkrankung alleine am IQ auszurichten (leichte Intelligenzminderung 52–70 oder 75, mäßige 36–51, schwere 20–35, extrem schwere < 20), ist zu ungenau. Die Klassifizierung muss auch das Ausmaß der erforderlichen Unterstützung berücksichtigen (1):

  • Intermittierend: Gelegentliche Unterstützung erforderlich

  • Begrenzt: Unterstützung, z. B. ein Tagesprogramm in einer Behindertenwerkstatt

  • Umfangreich: Tägliche, kontinuierliche Unterstützung

  • Durchgängig: Ein hohes Maß an Unterstützung bei allen Aktivitäten des täglichen Lebens, möglicherweise einschließlich umfassender Pflege

Diese Art der Therapie stellt die Stärken und Bedürfnisse des Betroffenen in den Mittelpunkt und setzt sie in Relation zu den Anforderungen der Umgebung und den Erwartungen der Familie und Gemeinschaft.

Bei ungefähr 3% der Gesamtbevölkerung liegt der IQ < 70, zwei Standardabweichungen unter dem durchschnittlichen Intelligenzquotienten der Allgemeinbevölkerung (IQ < 100). Betrachtet man nur die Notwendigkeit von Hilfsmaßnahmen, weist nur 1% der Bevölkerung eine schwere mentale Retardierung auf (1).

Eine schwere mentale Retardierung kommt in allen Bevölkerungsschichten und Ausbildungsniveaus vor. Die Leistung in Intelligenz- und Leistungstests wird durch den sozioökonomischen Status beeinflusst. Trotzdem suggerieren Studien, dass auch bei den leichteren kognitiven Störungen die Genetik eine Rolle spielen könnte (2).

Allgemeine Literatur

  1. 1. Schalock RL, Luckasson R, Tassé MJ: An Overview of Intellectual Disability: Definition, Diagnosis, Classification, and Systems of Supports (12th ed.). Am J Intellect Dev Disabil 126(6):439–442, 2021. doi:10.1352/1944-7558-126.6.439

  2. 2. Ilyas M, Mir A, Efthymiou S, Houlden H: The genetics of intellectual disability: advancing technology and gene editing. F1000Res 9:F1000 Faculty Rev-22, 2020. doi:10.12688/f1000research.16315.1

Ätiologie der geistigen Behinderung

Intelligenz wird sowohl durch die Umwelt als auch die Genetik bestimmt. Kinder von Eltern mit einer mentalen Retardierung haben ein erhöhtes Risiko für Entwicklungsstörungen, aber eine klare genetische Vererbung für mentale Retardierung gibt es nicht. Obwohl die Chromosomen-Microarray-Analyse und die Sequenzierung des gesamten Genoms der kodierenden Regionen (Exom) die Wahrscheinlichkeit erhöht haben, dass einige Ursachen für geistige Behinderung identifiziert werden können, kann eine Ursache für geistige Behinderung bei einer bestimmten Person oft nicht festgestellt werden. Eine Ursache wird eher bei schweren Fällen gefunden. Sprachprobleme und mindere soziale Fähigkeiten sind auch meist mehr ein Problem der Gemütsverfassung, der Isolierung von der Umgebung, von Lernstörungen und Taubheit, als ein Problem der geistigen Behinderung.

Pränatale Faktoren

Eine Reihe von Chromosomenanomalien und genetischen metabolischen und neurologischen Störungen können eine geistige Behinderung verursachen (siehe Tabelle Einige chromosomale und genetische Ursachen mentaler Retardierung).

Zu den kongenitalen Infektionen, die eine mentale Retardierung verursachen, gehören Röteln, Zytomegalie, Toxoplasma gondii, Treponema pallidum, Herpes-Simplex-Virus und HIV. Eine pränatale Infektion mit dem Zika-Viruskann eine kongenitale Mikrozephalie und damit verbundene schwere geistige Behinderung verursachen.

Eine pränatale Medikamenten- und Toxinexposition kann eine intellektuelle Behinderung verursachen. Das fetale Alkoholsyndrom ist eine der häufigsten Ursachen. Antikonvulsiva wie Phenytoin oder Valproinsäure, Chemotherapie, Bestrahlung, Blei und Quecksilber sind weitere Ursachen.

Auch schwere Unterernährung während der Schwangerschaft kann die kindliche Hirnentwicklung beeinträchtigen, was zu einer mentalen Retardierung führt.

Perinatale Faktoren

Komplikationen aufgrund von Frühreife, Hirnblutung, periventrikulärer Leukomalazie, Zangen- oder Glockengeburt, multifetale Schwangerschaft, Placenta praevia, Präeklampsie und perinataler Sauerstoffmangel erhöhen das Risiko für eine mentale Retardierung. Das Risiko ist für Kinder mit niedrigem Geburtsgewicht erhöht. Verminderte Intelligenz und niedriges Gewicht haben eine ähnliche Ursache. Kinder mit sehr oder extrem niedrigem Geburtsgewicht haben je nach Geburtsalter, perinatalen Ereignissen und der Betreuungsqualität ein unterschiedliches Risiko für eine geistige Behinderung.

Postnatale Faktoren

Unterernährung und soziale Deprivation (Fehlen körperlicher, emotionaler und geistiger Unterstützung, die für Wachstum, Entwicklung und soziale Adaptation wichtig sind) während der Säuglings- und Kleinkindphase können die meist verbreitete Ursache für eine mentale Retardierung weltweit sein. Virale und bakterielle Enzephalitiden (einschließlich der HIV-assoziierten Neuroenzephalopathie), Meningitiden (z. B. Pneumokokkeninfektionen, Haemophilus influenzae-Infektion, Vergiftungen (Blei, Quecksilber), schwere Unterernährung und schwere Schädel-Hirntraumata oder Sauerstoffmangel können zur mentalen Retardierung führen.

Symptome und Anzeichen einer geistigen Behinderung

Die primären Symptome von geistiger Behinderung sind

  • Verlangsamter Erwerb neuer Kenntnisse und Fähigkeiten

  • Unreifes Verhalten

  • Eingeschränkte Selbstständigkeit

Einige Kinder mit leichter Retardierung entwickeln erst in der Schulzeit erkennbare Symptome. Aber Kinder mit mittelschwerer oder schwerer geistiger Behinderung oder mit zusätzlichen körperlichen Gebrechen oder mit Krankheiten (z. B. Anfälle), die eine bestimmte Ursache haben (z. B. perinataler Sauerstoffmangel), werden schon früh identifiziert. Eine verzögerte Entwicklung ist in der Regel im Vorschulalter erkennbar, was sich oft mehr als Verzögerung in der Kommunikation als in den motorischen Fähigkeiten manifestiert. Bei älteren Kindern sind die charakteristischen Merkmale ein niedriger IQ in Kombination mit Einschränkungen in den adaptiven Verhaltensfähigkeiten (z. B. Kommunikation, Selbststeuerung, soziale Fähigkeiten, Selbstversorgung, Nutzung von Gemeinschaftsressourcen, Aufrechterhaltung der persönlichen Sicherheit). Obwohl die Entwicklung eine große Bandbreite zeigt, ist es für Kinder mit einer geistigen Behinderung üblich, eher langsame Fortschritte als einen Stillstand zu zeigen.

Der Grund für eine psychiatrische Behandlung und eine aushäusige Unterbringung geistig behinderter Kinder sind meistens Verhaltensprobleme. Verhaltensstörungen sind im Allgemeinen situationsbedingt; häufig lassen sich auslösende Faktoren identifizieren. Faktoren, die für inakzeptables Verhalten prädisponieren können, beinhalten

  • Mangelnde Erziehung zu sozial verantwortlichem Handeln

  • Inkonsistente Grenzwerteinstellung

  • Verstärkung von Fehlverhalten

  • Eingeschränkte Fähigkeit zu kommunizieren

  • Beschwerden aufgrund von begleitenden physischen Problemen und psychischen Erkrankungen wie Depression oder Angst

In Heimen (jetzt in den USA unüblich) tragen Probleme durch Überfüllung, zu wenig Betreuungspersonal und fehlende Aktivitäten sowohl zu Verhaltensschwierigkeiten als auch zu begrenzten funktionalem Fortschritt bei. Die Vermeidung einer langfristigen Unterbringung in großen Pflegeeinrichtungen ist extrem wichtig, um den individuellen Erfolg zu maximieren.

komorbide Störungen

Komorbide Erkrankungen sind häufig, insbesondere Aufmerksamkeits-Defizit-Hyperaktivitäts-Störung, Stimmungsschwankungen (Depressionen, bipolare Störungen), Autismus-Spektrum-Störungen, Angststörung und andere.

Bei einigen Kindern kommen motorische oder sensorische Beeinträchtigungen wie zerebrale Lähmungen oder andere motorische Defizite, Sprachverzögerungen oder Hörverlust hinzu. Solche motorischen und sensorischen Veränderungen können eine geistige Unterentwicklung vortäuschen, sind aber nicht deren Ursache. Manche Kinder entwickeln, wenn sie heranwachsen, Angstzustände oder eine Depression, wenn sie von anderen sozial abgelehnt werden oder bemerken, dass sie von anderen abgelehnt oder für dumm und andersartig gehalten werden. Gut ausgearbeitete Schulprogramme, die diese Kinder integrieren, können die soziale Integration maximal fördern und solche emotionalen Reaktionen vermindern.

Diagnose der geistigen Behinderung

  • Pränataltests

  • Intelligenz- und Entwicklungsbeurteilung

  • Bildgebende Verfahren zur Darstellung des Zentralnervensystems

  • Gentests

Pränatale Tests können durchgeführt werden, um festzustellen, ob der Fötus Anomalien, einschließlich genetischer Erkrankungen, aufweist, die eine geistige Behinderung begünstigen.

Von der Geburt an werden Wachstum und Entwicklung, einschließlich der kognitiven Fähigkeiten, routinemäßig bei Vorsorgeuntersuchungen untersucht. Bei Verdacht auf eine intellektuelle Beeinträchtigung werden die Entwicklung und die Intelligenz genauer untersucht, in der Regel durch Mitarbeiter der Frühförderung oder der Schule.

Nach der Feststellung einer intellektuellen Beeinträchtigung wird versucht, die Ursache zu ermitteln, was häufig eine Bildgebung des zentralen Nervensystems (ZNS) sowie genetische und metabolische Tests einschließt. Eine genaue Ursachenklärung trägt dazu bei, die Prognose für die weitere Entwicklung zu stellen, Erziehungs- und Trainingspläne nahezulegen, eine genetische Beratung durchzuführen und etwaige Schuldgefühle der Eltern zu mindern.

Pränataltests

Die genetische Beratung vermittelt Hochrisikofamilien Hintergrundswissen für die Ursachen der Behinderung. Falls ein Kind eine geistige Behinderung hat, kann die Familie bei bekannter Ursache über das Risiko bei weiteren Schwangerschaften aufgeklärt werden.

Pränataltests können bei Hochrisiko-Paaren durchgeführt werden, die beschließen, Kinder zu haben. Eine pränatale Diagnostik ermöglicht es Paaren über einen Schwangerschaftsabbruch und die nachfolgende Familienplanung nachzudenken. Tests umfassen

  • Amniozentese oder Chorionzottenbiopsie

  • Quad-Screen

  • Sonografie

  • Mütterliches Serum Alpha-Fetoprotein

  • Nichtinvasive pränatale Diagnostik

Amniozentese oder Chorionzottenbiopsie kann angeborene metabolische und chromosomale Störungen, Trägerzustände und ZNS-Fehlbildungen (z. B. Neuralrohrdefekte, Anenzephalie) erkennen und kann schwangeren Patientinnen angeboten werden, insbesondere solchen > 35 Jahre alt, um das Down-Syndrom oder eine vererbte Stoffwechselstörung zu erkennen.

Der Quad-Screen (d. h. die Messung der mütterlichen Spiegel von Beta-humanem Choriongonadotropin [beta-hCG], unkonjugiertem Östriol, Alpha-Fetoprotein und Inhibin A) wird für die meisten schwangeren Patientinnen empfohlen, um das Risiko für Down-Syndrom, Trisomie 18, Spina bifida und Bauchwanddefekte zu ermitteln.

Die Sonographie eignet sich für die Entdeckung von ZNS-Defekten.

Die Bestimmung des Alpha-Fetoproteins bei der Mutter ist eine hilfreiche Screeningmethode zum Nachweis von Neuralrohrdefekten, Down-Syndrom oder anderen Störungen.

Nichtinvasives vorgeburtliches Screening (NIPS) -Verfahren können verwendet werden, um numerische Chromosomenanomalien zu identifizieren, und wurden verwendet, um einige größere Mikrodeletionssyndrome wie etwa die 22q11-Deletion zu identifizieren.

Intelligenz- und Entwicklungsbeurteilung

.Standardisierte Intelligenztests können unterdurchschnittliche intellektuelle Fähigkeiten messen, sind aber fehleranfällig, und die Ergebnisse sollten in Frage gestellt werden, wenn sie nicht mit den klinischen Befunden übereinstimmen; Krankheiten, motorische oder sensorische Beeinträchtigungen, Sprachbarrieren und/oder der sozioökonomische Status können die Testleistung eines Kindes beeinträchtigen. Solche Tests orientieren sich an der Mittelschicht, doch im Allgemeinen schätzen sie die intellektuellen Fähigkeiten der Kinder, insbesondere der älteren Kinder, vernünftig ein.

Als Screeningtests auf Entwicklungsstörungen eignen sich etwa der "Ages and Stages Questionnaire" (ASQ) oder "the Parents' Evaluation of Development Status (PEDS) und können u. a. von Ärzten durchgeführt werden. Diese Tests sollten nur zum Screening verwandt werden und nicht als Ersatz für ausführliche Intelligenztests, die von Psychologen durchgeführt werden sollten. Das Kind sollte entwicklungsneurologisch untersucht werden, sobald sich eine Verzögerung in der Entwicklung zeigt.

Ein Kinderneurologe sollte alle Fälle folgender Art untersuchen:

  • Mittelschwere bis schwere Entwicklungsverzögerungen

  • Progressive Behinderung

  • Neuromuskuläre Verschlechterung

  • Neonatale Anfallssyndrome

Diagnostik der Ursachen

Eine ausführliche Anamnese (einschließlich perinataler Entwicklung, neurologischer Anamnese und Familienanamnese) kann die Ursache aufdecken helfen (1).

Eine MRT kann Veränderungen im Gehirn (wie bei den Phakomatosen Neurofibromatose und tuberöse Sklerose), einen behandelbaren Hydrozephalus oder schwerwiegendere Hirnpathologien wie die Schizenzephalie zeigen.

Genetische Tests können helfen, Störungen zu identifizieren:

  • Standard-Karyotypisierung zeigt Down-Syndrom (Trisomie 21) und andere Störungen der Chromosomenzahl.

  • Ein Chromosomen-Microarray-Analyse identifiziert Kopiennummernvarianten, wie sie beim 5p-Syndrom (5p minus Syndrom oder cri du chat Syndrom) oder DiGeorge-Syndrom (Chromosom 22q Deletion) vorkommen können.

  • Direkte DNA-Untersuchungen identifizieren Fragiles X-Syndrom

Die chromosomale Microarray-Analyse ist der bevorzugte Untersuchungswerkzeug; sie kann dazu verwendet werden gezielt verdächtige Syndrome zu identifizieren und auch wenn kein spezifisches Syndrom vermutet wird. Es bietet Möglichkeiten die sonst unerkannten Chromosomenstörungen zu identifizieren, erfordert aber Abstammungsgutachten, um positive Befunde zu interpretieren. Eine komplette Genom-Sequenzierung der kodierenden Regionen (komplette Exomsequenzierung) ist eine, detailliertere Methode, die weitere Ursachen für geistige Behinderung aufdecken kann.

Klinischen Erscheinungsbilder (z. B. Wachstumsschwierigkeiten, Lethargie, Erbrechen, Anfälle, Hypotonie, Hepatosplenomegalie, Dysmorphiezeichen, ungewöhnlicher Uringeruch, Makroglossie) können auf eine genetisch bedingte Stoffwechselstörung hinweisen. Ein isolierter Entwicklungsrückstand im Sitzen oder Gehen (grobmotorische Fähigkeiten) und beim Pinzettengriff, beim Malen und Schreiben (feinmotorische Fähigkeiten) kann Ausdruck einer neuromuskulären Störung sein.

Spezifische Labortests werden in Abhängigkeit von der vermuteten Ursache durchgeführt (siehe Tabelle Tests für einige Ursachen der geistigen Behinderung). Visuelle und auditive Untersuchungen sollten bereits im frühen Alter durchgeführt werden, und ein Screening auf Blei-Exposition ist häufig angebracht.

Tabelle
Tabelle

Diagnosehinweis

  1. 1. Moeschler JB, Shevell M; Committee on Genetics: Comprehensive evaluation of the child with intellectual disability or global developmental delays. Pediatrics 134(3):e903–e918, 2014. doi:10.1542/peds.2014-1839

Behandlung von geistiger Behinderung

  • Frühes Interventionsprogramm

  • Multidisziplinäres Unterstützungsteam

Behandlung und Unterstützung richten sich nach den kognitiven Fähigkeiten und den Sozialkompetenzen des betroffenen Kindes. Eine Überweisung an ein Frühförderzentrum kann die Schwere einer geistigen Behinderung, die eine perinatale Ursache hat, verhindern oder mindern. Eine realistische Versorgung des betroffenen Kindes muss angestrebt werden.

Unterstützung und Beratung der Familie sind wichtig. Sobald eine Retardierung bestätigt oder stark vermutet wird, sollte dies den Eltern mitgeteilt und ihnen Zeit gegeben werden, die Ursachen, Auswirkungen, Prognose, Erziehung und Training des Kindes zu diskutieren. Es ist auch wichtig, den negativen Ich-bezogenen Prophezeiungen bekannte prognostische Risiken entgegenzustellen, bei denen sich niedrige Erwartungen schlecht auf das spätere Leben auswirken. Eine einfühlsame weiterführende Beratung ist für den Anpassungsprozess der Familie wichtig. Jedoch sollte der Hausarzt die weitere medizinische Versorgung und Beratung planen. Wenn der Hausarzt dem nicht nachkommen kann, sollte er das Kind und die Familie an ein Zentrum mit einem multidisziplinärem Team überweisen, das Kinder mit geistiger Behinderung untersucht und behandelt.

Geeignete Spezialisten, darunter auch Erzieher, sollten ein umfassendes, individuelles Programm ausarbeiten.

Zu einem multidisziplinären Team gehören

  • Neurologen oder Kinderärzte, die auf Entwicklungsstörungen und Verhaltensstörungen spezialisiert sind

  • Orthopäden

  • Neurologen oder Entwicklungspädiater, Orthopäden, Krankengymnasten und Ergotherapeuten, die für die Behandlung der auftretenden motorischen Störungen zuständig sind

  • Sprachtherapeuten und Otologen, die bei sprachlich Unterentwickelten oder bei vermutetem Hörverlust helfen

  • Ernährungswissenschaftler, die bei der Behandlung von Mangelernährung zum Einsatz kommen

  • Augenärzte oder Optiker (die dabei helfen, eine optimale Sicht zu gewährleisten)

  • Sozialarbeiter, die dabei helfen, die äußeren Bedingungen zu verbessern und wichtige Ressourcen auszuloten

  • Psychologen (die die Planung von Verhaltensinterventionen überwachen)

Geistig behinderte Kinder mit gleichzeitigen psychiatrischen Krankheiten wie Depression können mit antipsychotischen Medikamenten in ähnlicher Dosierung wie Nichtbehinderte behandelt werden. Die Verwendung von antipsychotischen Medikamenten ohne eine Verhaltenstherapie oder eine Veränderung der Umwelt ist selten erfolgreich.

Es sollten alle Anstrengungen unternommen werden, um das Kind zu Hause oder in einer Gemeinschaft leben zu lassen. Das Leben zu Hause in der Familie ist in der Regel besser für das Kind als eine alternative Unterbringung, es sei denn, ausgeprägte Verhaltensschwierigkeiten erfordern ein höheres Maß an Aufsicht, als es die Familie bieten kann. Die Familie kann von psychologischer Unterstützung und Hilfe bei der täglichen Pflege durch Kindertagesstätten und Entlastungsdienste profitieren. Die Lebensumstände sollten Unabhängigkeit fördern und alle Fähigkeiten verstärken, um dieses Ziel zu erreichen.

Wann immer möglich, sollten Kinder mit intellektueller Beeinträchtigung eine entsprechend angepasste Kindertagesstätte oder Schule mit Gleichaltrigen ohne kognitive Beeinträchtigung besuchen. Der Individuals with Disabilities Education Act (IDEA), das wichtigste Gesetz zur Sonderpädagogik in den Vereinigten Staaten, legt fest, dass alle Kinder mit Behinderungen angemessene Bildungsmöglichkeiten und -programme in einem möglichst wenig einschränkenden und integrativen Umfeld erhalten sollten. Das Gesetz für Menschen mit Behinderung (Americans with Disability Act) und Abschnitt 504 des Rehabilitationsgesetzes (Section 504 of the Rehabilitation Act) sehen ebenfalls Vorkehrungen in Schulen und anderen öffentlichen Einrichtungen vor.

Wenn geistig Behinderte das Erwachsenenalter erreichen, stehen ihnen geeignete Wohnmöglichkeiten und Arbeitsstätten zur Verfügung. Große Pflegeheime werden immer häufiger durch kleine Wohngruppen oder unterstütztes individuell betreutes Wohnen ersetzt, die zu den Fähigkeiten und Bedürfnissen des Einzenen passen.

Prognose für geistige Behinderung

Viele Menschen mit einer leichten bis mittelschweren geistigen Behinderung können sich selbst unterstützen, leben selbstständig und können Arbeiten mit niedrigen intellektuellen Ansprüchen ausführen.

Die Lebenserwartung kann abhängig von der Ursache der Störung verkürzt sein. Die Gesundheitsvorsorge aber verlängert die Lebenszeit aller Betroffenen unabhängig von der Genese der Entwicklungsstörung. Menschen mit schwerer mentaler Retardierung brauchen eher ein Leben lang Unterstützung. Je schwerer die Behinderung ist, desto größer ist die Immobilität und damit das Mortalitätsrisiko.

Prävention von geistiger Behinderung

Impfstoffe haben fast kongenitale Röteln und Pneumokokken sowie H. influenzae-Meningitis als Ursachen für geistige Behinderung eliminiert.

Das fetale Alkoholsyndrom ist eine sehr häufige und völlig vermeidbare Ursache für geistige Behinderungen. Da es nicht bekannt ist, zu welchem Zeitpunkt während einer Schwangerschaft die Schädigung des Feten erfolgt und ob es so etwas wie einen sicheren Grenzwert für die Alkoholmenge gibt, sollten schwangere Frauen dahingehend beraten werden, gar keinen Alkohol zu sich zu nehmen.

Eine Folsäuresubstitution (400–800 mcg p.o. einmal täglich) bei Frauen 3 Monate vor der Konzeption und während des 1. Schwangerschaftstrimesters reduziert das Risiko eines Neuralrohrdefekts (siehe Prävention von angeborenen neurologischen Anomalien).

Kontinuierliche Verbesserungen, zunehmende Verfügbarkeit einer guten Schwangerschaftsvorsorge und Neugeborenenversorgung, die Möglichkeit einer Austauschtransfusion und Anti-Rho(D)-Immunglobulin zur Vermeidung einer hämolytischen Krankheit des Neugeborenen haben die Inzidenz der geistigen Behinderung verringert. Wegen der wachsenden Häufigkeit von überlebenden Kindern mit niedrigem Geburtsgewicht ist die Prävalenz aber konstant geblieben.

Wichtige Punkte

  • Mentale Retardierung bedeutet eine langsame geistige Entwicklung mit unterdurchschnittlichen intellektuellen Fähigkeiten, unreifem Verhalten und eingeschränkter Autonomie, sodass ein Zustand erreicht wird, der unterstützende Hilfe erfordert.

  • Eine Anzahl von pränatalen, perinatalen und postnatalen Faktoren verursachen mentale Retardierung, aber in 60–80% der Fälle kann oft keine spezifische Ursache identifiziert werden.

  • Sprachprobleme und mindere soziale Fähigkeiten sind meist mehr ein Problem der Gemütsverfassung, der Isolierung von der Umgebung, von Lernstörungen und Taubheit, als ein Problem der geistigen Behinderung.

  • Screenings mit standardisierten Tests wie die "ges- and Stages-Fragebögen" (ASQ) oder "the Parents' Evaluation of Development Status (PEDS) sollten vorgenommen werden. Auffällige Fälle werden dann genauer auf Intelligenz und neurologische Entwicklung untersucht.

  • Die Suche nach spezifischen Ursachen erfolgt mit kranialer Bildgebung, genetischen Tests (z. B. chromosomale Microarray-Analyse, Exom- Sequenzierung) und anderen Tests wie klinisch indiziert.

  • Wichtig ist ein umfassendes individuelles Programm einschließlich Unterstützung und Beratung der Familie mit einem multidisziplinären Team.

Weitere Informationen

Die folgenden englischsprachigen Quellen können nützlich sein. Bitte beachten Sie, dass das MSD-Manual nicht für den Inhalt dieser Quellen verantwortlich ist.

  1. American Academy of Pediatrics: Comprehensive evaluation of the child with intellectual disability or global developmental delays (2014)

  2. Individuals with Disabilities Education Act (IDEA): Ein US-amerikanisches Gesetz, das berechtigten Kindern mit Behinderungen eine kostenlose, angemessene öffentliche Bildung ermöglicht und diesen Kindern sonderpädagogische und damit verbundene Dienstleistungen garantiert

  3. Americans with Disability Act: Ein US-Gesetz, das Diskriminierung aufgrund einer Behinderung verbietet

  4. Section 504 of the Rehabilitation Act: Ein US-Gesetz, das Menschen mit Behinderungen bestimmte Rechte garantiert

  5. American Association on Intellectual and Developmental Disabilities (AAIDD): An organization providing research, support, and advocacy resources for people with intellectual and developmental disabilities

  6. March of Dimes: An organization aiming to improve the health of mothers and babies through research, advocacy, and education