Thrombozytenstörungen im Überblick

VonDavid J. Kuter, MD, DPhil, Harvard Medical School
Überprüft/überarbeitet Juni 2022
Aussicht hier klicken.

Thrombozyten sind zirkulierende Zellfragmente, die für die Blutgerinnung zuständig sind. Thrombopoietin hilft dabei, die Anzahl der zirkulierenden Blutplättchen zu kontrollieren, indem es das Knochenmark zur Produktion von Megakaryozyten stimuliert, die wiederum Blutplättchen von ihrem Zytoplasma abwerfen. Thrombopoietin wird in der Leber mit einer konstanten Rate produziert, und sein zirkulierender Spiegel hängt davon ab, wie viel davon an zirkulierende Thrombozyten und möglicherweise an Megakaryozyten im Knochenmark gebunden ist und in welchem Umfang zirkulierende Thrombozyten ausgeschieden werden. Es stimuliert die Produktion von Thrombozyten für 7 bis 10 Tage. Etwa ein Drittel der Thrombozyten wird vorübergehend in der Milz sequestriert.

Der normale Thrombozytenwert liegt zwischen 140.000 und 440.000/mcl (140 bis 440 × 109/l). Die Anzahl kann im Verlauf eines Menstruationszyklus jedoch leicht variieren, während der Endphase der Schwangerschaft vermindert sein (Gestationsthrombozytopenie) und sich als Reaktion auf die Freisetzung inflammatorischer Zytokine (sekundäre/reaktive Thrombozytose) erhöhen. Thrombozyten gehen ggf. durch Apoptose zugrunde, ein von der Milz unabhängiger Prozess.

Thrombozytenstörungen umfassen

Alle vorgenannten Veränderungen, auch solche, die mit stark erhöhten Thrombozytenzahlen verbunden sind, können zu Störungen bei der Thrombusbildung oder zu Blutungsstörungen führen.

Das Blutungsrisiko verhält sich umgekehrt proportional zur Thrombozytenzahl und zur Thrombozytenfunktion (siehe Tabelle Thrombozytenzahl und Blutungsrisiko). Wenn die Thrombozytenfunktion eingeschränkt ist (z. B. infolge einer Urämie oder der Einnahme von nichtsteroidalen Antirheumatika [NSAR] oder Aspirin), steigt das Blutungsrisiko.

Tabelle
Tabelle

Ätiologie von Thrombozytenstörungen

Thrombozythämie und Thrombozytose

Die essenzielle Thrombozythämie ist eine myeloproliferative Neoplasie (früher myeloproliferative Krankheit), die mit einer Überproduktion von Thrombozyten aufgrund einer klonalen Störung einer hämatopoetischen Stammzelle einhergeht. Es gibt keine Korrelation zwischen der Thrombozytenzahl und dem Thromboserisiko, aber einige Patienten mit extremer Thrombozytose (d. h. > 1.000.000/mcl [> 1000 × 109/l]) entwickeln Blutungen aufgrund des Verlustes von hochmolekularen von Willebrand-Faktor-Multimeren (erworbener Typ 2B von Willebrand-Krankheit).

Bei der reaktiven Thrombozytose kommt es als Reaktion auf eine andere Erkrankung zu einer Überproduktion von Blutplättchen. Zu den zahlreichen zugrunde liegenden Ursachen gehören unter anderem akute Infektionen, chronische entzündliche Erkrankungen (z. B. rheumatoide Arthritis, entzündliche Darmerkrankungen, Tuberkulose, Sarkoidose), Eisenmangel und bestimmte maligne Tumoren. Eine reaktive Thrombozytose ist typischerweise nicht mit einem erhöhten Thrombose- oder Blutungsrisiko assoziiert.

Thrombozytopenie

Die Ursachen der Thrombozytopenie können nach dem Mechanismus klassifiziert werden (siehe Tabelle Klassifikation der Thrombozytopenien) und umfassen:

  • Verringerte Thrombozytenproduktion

  • erhöhte Milzsequestrierung von Thrombozyten bei normalem Thrombozytenüberleben

  • Erhöhte Zerstörung oder Verzehr von Thrombozyten (sowohl immunologische als auch nichtimmunologische Ursachen)

  • Verdünnung von Thrombozyten

Tabelle
Tabelle

Eine große Anzahl an Medikamenten kann eine Thrombozytopenie verursachen, normalerweise durch Auslösung eines immunologischen Abbaus.

Die häufigsten spezifischen Ursachen der Thrombozytopenie sind

Thrombozytendysfunktion

Der Grund für eine Thrombozytendysfunktion kann sowohl ein intrinsischer Thrombozytendefekt sein als auch ein extrinsischer Faktor, der die Funktion der normalen Thrombozyten beeinflusst. Eine Thrombozytendysfunktion kann angeboren oder erworben sein. Erbliche Störungen der Thrombozytenfunktion bestehen aus der von Willebrand-Krankheit, der häufigsten erblichen hämorrhagischen Erkrankung, und erbliche intrinsische Thrombozytenerkrankungen, die weit weniger verbreitet sind. Erworbene Störungen der Thrombozytenfunktion sind meist Folge von Krankheiten (z. B. Nierenversagen) oder eingenommenen Arzneimitteln (z. B. Acetylsalicylsäure).

Symptome und Beschwerden von Thrombozytenstörungen

Thrombozytenstörungen führen zu einem typischen Blutungsverhalten:

  • Multiple Petechien der Haut, typischerweise am deutlichsten im Bereich der Unterschenkel

  • Verstreute kleine Ekchymosen an Stellen kleinerer Traumata oder an Venenpunktionsstellen

  • Schleimhautblutungen (oropharyngeale Blutungen, Epistaxis, Blutungen des Gastrointestinal- oder Urogenitaltrakts)

  • Verstärkte Blutungen nach chirurgischen Eingriffen

  • Starke Menstruationsblutungen

Manifestationen von Thrombozytenerkrankungen
Petechien bei Immunthrombozytopenie (ITP)
Petechien bei Immunthrombozytopenie (ITP)

Mit Genehmigung des Herausgebers. From Deitcher S. In Atlas of Clinical Hematology. Edited by JO Armitage. Philadelphia, Current Medicine, 2004.

Ekchymosen bei Immunthrombozytopenie
Ekchymosen bei Immunthrombozytopenie

Mit Genehmigung des Herausgebers. From Deitcher S. In Atlas of Clinical Hematology. Edited by JO Armitage. Philadelphia, Current Medicine, 2004.

Ekchymose
Ekchymose

Ekchymosen sind die großen violetten Blutergüsse, die am Bein dieses Patienten zu sehen sind.

DR P. MARAZZI/SCIENCE PHOTO LIBRARY

Petechien (harter Gaumen)
Petechien (harter Gaumen)

Petechien sind durch kleine rote Flecken gekennzeichnet, wie hier am Gaumen dieses Patienten zu sehen.

DR P. MARAZZI/SCIENCE PHOTO LIBRARY

Schwere gastrointestinale Blutungen und Blutungen in das zentrale Nervensystem sind selten, können aber lebensbedrohlich sein. Blutungen in Gewebe (z.B. tiefe viszerale Hämatome oder Hämarthrosen) treten bei einer Thrombozytopenie jedoch selten auf, stattdessen haben die Patienten in der Regel sofortige und oberflächliche Blutungen nach einer Verletzung. Einblutungen in das Gewebe, die oft mit einer Verzögerung von bis zu einem Tag nach einem Trauma auftreten können, deuten auf eine Gerinnungsstörung (z. B. Hämophilie) hin.

Diagnose von Thrombozytenstörungen

  • Klinisch Petechien und Schleimhautblutungen

  • Blutbild mit Thrombozytenzählung, globale Gerinnungstests, peripherer Blutausstrich

  • Gelegentlich Knochenmarkaspiration

  • Manchmal von-Willebrand-Antigen, Thrombozytenbindungsaktivität und Multimerstudien

Der Verdacht auf thrombozytär bedingten Krankheiten besteht bei Patienten mit Petechien und Schleimhautblutungen. Zur initialen Diagnostik sollten ein Blutbild mit Thrombozytenzählung, globale Gerinnungstests und periphere Blutausstriche angeordnet werden. Eine Thrombozytose oder Thrombozytopenie wird anhand der Thrombozytenzahl diagnostiziert. Gerinnungstests fallen meist normal aus, sofern nicht parallel eine Gerinnungsstörung vorliegt. Der Verdacht auf eine Thrombozyten- oder Gefäßwanddysfunktion besteht, wenn im Blutbild die Thrombozytenzahl sowie der INR (International Normalized Ratio)-Wert und die partielle Thromboplastinzeit im Normalbereich liegen.

Tipps und Risiken

  • Eine Thrombozyten- oder Gefäßwanddysfunktion sollte bei Patienten mit Petechien und/oder Blutungen, aber mit normaler Thrombozytenzahl und unauffälligen Gerinnungstestergebnissen in Bertracht gezogen werden.

Thrombozytopenie

Eine periphere Abstrichuntersuchung ist bei Patienten mit Thrombozytopenie wichtig, da automatisierte Thrombozytenzählungen manchmal eine Pseudothrombozytopenie anzeigen, die auf eine Verklumpung der Blutplättchen durch das in einigen Blutentnahmeröhrchen enthaltene Reagenz Ethylendiamintetraessigsäure (EDTA) zurückzuführen ist. Auch können Schistocyten gesehen werden, die auf eine valvuläre Hämolyse, thrombotische thrombozytopenische Purpura (TTP), hämolytisch-urämisches Syndrom (HUS) oder disseminierte intravasale Gerinnung (DIC-siehe Tabelle Befunde im Blutbild bei thrombozytären Krankheiten) hinweisen können.

Die Knochenmarkentnahme ist oft indiziert, wenn der Abstrich andere Anomalien als Thrombozytopenie aufweist, wie z. B. nukleierte Erythrozyten oder abnorme oder unreife Leukozyten. Diese gibt Auskunft über die Anzahl und das Erscheinungsbild von Megakaryozyten und ist der maßgebliche diagnostische Test für viele Störungen, die eine Knochenmarkinsuffizienz verursachen. Wenn der Knochenmarkbefund normal ist, jedoch eine Splenomegalie vorliegt, ist eine gesteigerte Sequestration in der Milz der wahrscheinlichste Grund für die Thrombozytopenie. Ist die Milz nicht vergrößert, so ist ein gesteigerter Thrombozytenabbau der wahrscheinlichste Grund.

Allerdings steht die normale Anzahl und das Erscheinungsbild von Megakaryozyten nicht immer für eine normale Thrombozytenproduktion. Zum Beispiel kann bei vielen Patienten mit Immunthrombozytopenie die Thrombozytenproduktion verringert sein, auch wenn die Megakaryozyten normal erscheinen und ihre Anzahl vermehrt ist. Tatsächlich ist eine Knochenmarkuntersuchung bei Patienten, die typische Merkmale einer Immunthrombozytopenie aufweisen, nur selten erforderlich.

Die unausgereifte Thrombozytenfraktion im peripheren Blut ist manchmal ein nützliches Maß bei Patienten mit Thrombozytopenie, da sie erhöht ist, wenn das Knochenmark Thrombozyten produziert, und nicht erhöht, wenn die Thrombozytenproduktion im Knochenmark reduziert ist, ähnlich wie die Retikulozytenzahl bei Anämie.

Die Messung von Thrombozyten-Antikörpern kann bei einigen Patienten klinisch nützlich sein, um ITP von anderen Ursachen der Thrombozytopenie zu unterscheiden (1). HIV-Tests werden bei Patienten durchgeführt, die eine HIV-Infektion, eine Hepatitis-B- oder -C-Infektion oder eine HIV- und Hepatitis-Koinfektion haben oder bei denen ein solches Risiko besteht.

Tabelle
Tabelle

Verdacht auf Thrombozytendysfunktion

Bei Patienten mit Thrombozytendysfunktion kann ein Arzneimittel als Ursache angenommen werden, wenn die Symptome erst nach Beginn der Arzneimitteleinnahme (z. B. Ticarcillin, Prasugrel, Clopidogrel, Ticagrelor, Abciximab) aufgetreten sind. Thrombozytenfunktionsstörungen, die durch Medikamente verursacht werden, können schwerwiegend sein, aber spezialisierte Tests werden nur selten benötigt.

Eine Erbkrankheit muss bei Patienten vermutet werden, in deren Anamnese bereits lebenslang eine Neigung zu Hämatomen oder Blutungen nach Zahnextraktionen, chirurgischen Eingriffen, Entbindung oder Beschneidung oder zu starker Menstruation besteht. Bei Verdacht auf eine hereditäre Krankheit werden Von-Willebrand-Antigen (VWF) und VWF-Aktivitätsstudien routinemäßig durchgeführt.

Bei Patienten mit Verdacht auf eine hereditäre Fehlfunktion können Thrombozytenaggregationstests einen Defekt in der Reaktion der Blutplättchen auf verschiedene Thrombozytenagonisten (Adenosindiphosphat [ADP], Kollagen, Thrombin) identifizieren und damit zeigen, welche Art von Thrombozytendefekt besteht.

Eine Thrombozytendysfunktion aufgrund von systemischen Erkrankungen ist in der Regel leicht ausgeprägt und von untergeordneter klinischer Bedeutung. Bei diesen Patienten richtet sich das klinische Interesse auf die ursächlichen Erkrankungen, hämatologische Tests sind nicht nötig.

Diagnosehinweis

  1. 1. Al-Samkari H, Rosovsky RP, Karp Leaf RS: A modern reassessment of glycoprotein-specific direct platelet autoantibody testing in immune thrombocytopenia. Blood Adv 4(1):9–18, 2020. doi: 10.1182/bloodadvances.2019000868

Behandlung von Thrombozytenstörungen

  • Absetzen von Arzneimitteln, die die Thrombozytenfunktion beeinträchtigen

  • Selten Thrombozytentransfusionen

  • Selten Antifibrinolytika

Bei Patienten mit einer Thrombozytopenie oder thrombozytärer Dysfunktion sollten Arzneimittel, die die Thrombozytenfunktion weiter beeinträchtigen, nicht gegeben werden. Dies gilt insbesondere für Acetylsalicylsäure und andere nichtsteroidale Antiphlogistika (nichtsteroidale Antirheumatika). Bei Patienten, die bereits solche Substanzen einnehmen, sollten alternative Arzneimittel wie Paracetamol erhalten oder ganz auf die Einnahme verzichten.

In speziellen Situationen benötigen die Patienten unter Umständen eine Thrombozytentransfusion. Prophylaktische Transfusionen sollten nur sehr zurückhaltend eingesetzt werden, da sie aufgrund des Risikos der Entwicklung von Alloantikörpern gegen Thrombozyten ihre Effektivität verlieren können.

Bei einer Funktionsstörung der Blutplättchen oder einer Thrombozytopenie aufgrund einer verminderten Produktion sind Transfusionen, Thrombopoietin (TPO)-Rezeptor-Agonisten (z. B. Romiplostim, Eltrombopag, Avatrombopag) oder Antifibrinolytika (z. B. Aminocapronsäure, Tranexamsäure) Patienten vorbehalten mit

  • Aktive Blutungen

  • Schwere Thrombozytopenie (z. B. Thrombozytenzahl < 10.000/mcl [< 10 × 109/l)

  • Notwendigkeit eines invasiven Eingriffs

Bei Thrombozytopenie, die durch die Zerstörung von Blutplättchen verursacht wird, sind Transfusionen lebensbedrohlichen Blutungen des zentralen Nervensystems oder des Auges vorbehalten.