Die geburtshilfliche und gynäkologische Anamnese wird oft als eigenständiger Teil der Anamnese betrachtet. Diese Anamnese umfasst die medizinische Vorgeschichte im Zusammenhang mit der reproduktiven und allgemeinen gynäkologischen Gesundheit, einschließlich Schwangerschaften, Erkrankungen, Medikamenten und Eingriffen.
Geburtshilfliche Anamnese
Die Anamneseerhebung beginnt in der Regel mit Fragen zu früheren Schwangerschaften, einschließlich Datum, Ausgang und Komplikationen.
Bei schwangeren Patientinnen wird eine detailliertere geburtshilfliche Anamnese zu früheren Schwangerschaften und der aktuellen Schwangerschaft erhoben.
Gravidität und Parität
Die grundlegende geburtshilfliche Anamnese wird in einem bestimmten Format mit Angabe von Gravidität und Parität dokumentiert.
Gravidität (G) ist die Anzahl der bestätigten Schwangerschaften; eine Gravida ist eine Bezeichnung für eine Person, die mindestens eine Schwangerschaft hinter sich hat.
Parität (P) ist die Anzahl der Entbindungen bei ≥ 20 Schwangerschaftswochen. Die Zahlen zur Parität werden zusammen mit anderen Schwangerschaftsergebnissen erfasst:
Termingeburten (≥ 37 Wochen)
Frühgeburten (≥ 20 und < 37 Wochen)
Aborte (einschließlich spontane Schwangerschaftsverluste nach < 20 Schwangerschaftswochen, induzierte Aborte, ektopische Schwangerschaften oder molare Schwangerschaften)
Lebende Kinder
Mehrlingsschwangerschaften werden in Bezug auf die Gravidität und alle Paritätszahlen als 1 Schwangerschaft gezählt, mit Ausnahme der lebenden Kinder (z. B. für eine Frau, die eine Einzelschwangerschaft und eine Zwillingsschwangerschaft hatte und alle Kinder leben, wird dies als 3 notiert).
In diesem Dokumentationsformat werden die Nummern wie folgt aufgezeichnet:
G (Graviditätszahl) P (Paritätszahl, vermerkt als 4 Ziffern für Terminschwangerschaften, Frühschwangerschaften, Schwangerschaftsabbrüche und lebende Kinder)
Zum Beispiel wird die Anamnese einer Patientin, die eine Termingeburt, ein Paar Zwillinge, die in der 32. Woche geboren wurden, einen Spontanabort und eine ektope Schwangerschaft hatte, als G4 P1-1-2-3 dokumentiert.
Geburtshilfliche Ergebnisse und Komplikationen
Neben Gravidität und Parität konzentriert sich die Anamneseerhebung bei einer nicht schwangeren Patientin in der Regel auf frühere geburtshilfliche Komplikationen, die sich auf künftige Schwangerschaften oder die reproduktive oder allgemeine Gesundheit auswirken können.
Eine frühere geburtshilfliche Anamnese, die sich auf zukünftige Schwangerschaften auswirken kann, umfasst
Gestationsalter bei der Entbindung
Spontane Wehen oder Geburtseinleitung
Dauer der Wehen
Art der Entbindung (vaginal, operativ, Kaiserschnitt)
Geburtsgewicht und Geschlecht des Neugeborenen
Komplikationen, die weitere Untersuchungen zu Abklärung der Ätiologie erfordern (z. B. Totgeburt, kongenitale Anomalie)
Komplikationen, die zu Rezidiven neigen (z. B. Gestationsdiabetes, Präeklampsie, Frühgeburt, fetale Wachstumsretardierung, Schulterdystokie, postpartale Blutung, neonatale Streptokokken-Infektion der Gruppe B)
Komplikationen, die bei künftigen Schwangerschaften eine zusätzliche Behandlung oder Überwachung erfordern (z. B. zervikale Insuffizienz)
Eine frühere geburtshilfliche Anamnese, die sich auf die künftige reproduktive oder allgemeine Gesundheit auswirken kann, umfasst
Verletzungen während der vaginalen Entbindung oder chirurgische Komplikationen
Thromboembolie
Peripartale Kardiomyopathie
Aufnahme auf der Intensivstation
Komplikationen, die als chronische Krankheit fortbestehen können oder Risikofaktoren für künftige chronische Krankheiten sind (z. B. Gestationsdiabetes [1]], Gestationshypertonie oder schwere Präeklampsie [2]], postpartale Depression [3], postpartale Psychose)
Literatur zur geburtshilflichen Anamnese
1. Vounzoulaki E, Khunti K, Abner SC, Tan BK, Davies MJ, Gillies CL. Progression to type 2 diabetes in women with a known history of gestational diabetes: systematic review and meta-analysis. BMJ. 2020;369:m1361. Veröffentlicht am 13. Mai 2020. doi:10.1136/bmj.m1361
2. Mosca L, Benjamin EJ, Berra K, et al. Effectiveness-based guidelines for the prevention of cardiovascular disease in women--2011 update: a guideline from the american heart association [published correction appears in Circulation. 2011 Jun 7;123(22):e624] [published correction appears in Circulation. 2011 Oct 18;124(16):e427]. Circulation. 2011;123(11):1243-1262. doi:10.1161/CIR.0b013e31820faaf8
3. Howard LM, Molyneaux E, Dennis CL, Rochat T, Stein A, Milgrom J. Non-psychotic mental disorders in the perinatal period. Lancet. 2014;384(9956):1775-1788. doi:10.1016/S0140-6736(14)61276-9
Gynäkologische Anamnese
Bei der gynäkologischen Anamnese werden die Patientinnen nach den Symptomen oder Bedenken befragt, die den Besuch veranlasst haben. Die Anamnese sollte eine Menstruationsanamnese, eine Sexualanamnese, Symptome oder Vorgeschichte der Harnwege sowie frühere oder aktuelle gynäkologische Erkrankungen und Behandlungen umfassen.
Die Symptome werden zunächst durch offene Fragen und anschließend durch spezifische Fragen abgeklärt:
Schmerzen im Beckenbereich (Ort, Dauer, Charakter, Qualität, auslösende und lindernde Faktoren)
Anomale vaginale Blutungen (Menge, Dauer, Abhängigkeit vom Menstruationszyklus)
Vaginaler Ausfluss (Farbe, Geruch, Konsistenz)
Vulvovaginale Beschwerden oder Schmerzen (Lokalisation, Dauer, Charakter, Qualität, auslösende und lindernde Faktoren)
Die Blutungsanamnese umfasst:
Alter bei der Menarche oder Menopause
Blutungsdauer
Dauer und Regelmäßigkeit der Zyklen
Datum des Einsetzens der letzten Menstruationsperiode (LMP)
Daten der vorangegangenen Periode (vorherige Menstruationsperiode [PMP])
Volumen der Menses
Passage von Blutgerinnseln: Wenn in der Vergangenheit Blutgerinnsel aufgetreten sind, sind weitere Untersuchungen und eine Überweisung an einen Gynäkologen erforderlich.
Begleitsymptome der Regelblutung (z. B. Schmerz, Krämpfe, Migräne)
Die individuelle Menstruationsanamnese der Patientin wird mit den Normalbereichen für Merkmale des Menstruationszyklus (Häufigkeit, Regelmäßigkeit, Dauer und Volumen der Blutung) verglichen (siehe Tabelle Normale Menstruationsparameter). Bei Menstruationsanomalien werden Art und Ursache der auffälligen Gebärmutterblutung untersucht.
Normalerweise dauert die Menstruationsblutung ≤ 8 Tage, mit 24 bis 38 Tagen zwischen den Menstruationen; der durchschnittliche Blutverlust beträgt 30 ml (Spanne, 13 bis 80 ml), mit der größten Blutung am zweiten Tag. Eine Binde oder ein Tampon kann 5–15 ml Flüssigkeit aufnehmen. Die objektive Messung des Menstruationsvolumens wird nur in Forschungsstudien durchgeführt, daher sollten Ärzte die Patientin nach der Verwendung von Binden und Tampons und der Passage von Blutgerinnseln aus der Vagina fragen. Zu den Beschreibungen, die auf einen starken uterinen Blutfluss hindeuten, gehören:
Sättigung von ≥ 1 Binde oder Tampon innerhalb von 3 Stunden oder weniger
Sättigung > 21 Binden oder Tampons pro Zyklus
Häufiges Wechseln der Binde oder des Tampons während der Nacht, um zu vermeiden, dass Blut auf die Kleidung oder das Bettzeug tropft
Passieren von Blutgerinnseln mit einem Durchmesser von ≥ 1 Zoll
Krämpfe treten häufig am Tage vor sowie am ersten Blutungstag auf. Vaginale Blutungen, die unregelmäßig, schmerzlos, spärlich und ungewöhnlich kurz oder verlängert sind, deuten auf eine ovulatorische Dysfunktion hin.
Jede postmenopausale vaginale Blutung (beliebiges Volumen, einschließlich Schmierblutungen oder rosa oder braune Färbung) erfordert eine weitere Untersuchung auf Endometriumhyperplasie oder -krebs. Menopause wird 12 Monate nach Beendigung der Menses diagnostiziert. Bei Frauen in der Perimenopause kann es jedoch zu unregelmäßigen Blutungen kommen, und Blutungen nach der Menopause können als Menstruation missverstanden werden. Daher sollte jede starke, unregelmäßige oder anhaltende Blutung bei Frauen im Alter von ≥ 45 Jahren unabhängig von der Ätiologie durch eine Endometriumbiopsie weiter untersucht werden.
Frühere gynäkologische Anamnese umfasst die Anamnese von
Sexuell übertragbare Infektion (STI) oder pelvine entzündliche Erkrankung (einschließlich Diagnose, Häufigkeit und Behandlung)
Vulvale/vaginale Läsionen, Ovarialzysten, Uterusmyome, Infertilität, Endometriose, polyzystisches Ovarialsyndrom, Beckenorganprolaps oder Urin-/Stuhlinkontinenz (einschließlich der Art der Diagnose und der Behandlung)
Pap-Abstrich (normal oder auffällig), Kolposkopie (einschließlich Datum, Ergebnisse und Behandlung)
Gynäkologische Eingriffe wie Zervix-/Endometrium-/Vulva-/Vaginalbiopsie, Hysteroskopie, Laparoskopie, Hysterektomie (einschließlich Datum, Indikationen und Komplikationen)
Die sexuelle Anamnese sollte auf eine professionelle und nicht wertende Weise erfolgen und folgende Punkte umfassen (siehe CDC: Leitfaden zur Erhebung einer sexuellen Anamnese):
Geschlecht der Partner
Sexuelles Risikoverhalten (z. B. mehrere Partner, Risiko oder Vorgeschichte sexueller Gewalt)
Verwendung von Kontrazeptiva (insbesondere Verwendung von Kondomen)
Bedenken hinsichtlich der sexuellen Funktion (z. B. Dyspareunie, sexuelles Interesse, Erregung, Orgasmus)
Die Anamnese umfasst systemische Erkrankungen wie hämatologische, Autoimmun-, Leber-, Herz- und Nierenerkrankungen, Diabetes mellitus und Hypertonie. Jegliche Blutungsstörungen oder die Einnahme von Medikamenten, die die Blutgerinnung beeinflussen (z. B. Aspirin), nichtsteroidale Antirheumatika (NSAR) oder Antidepressiva oder Antipsychotika, die die Hypothalamus-Hypophysen-Gonaden-Achse beeinflussen, sind zu beachten.
Die Sozialanamnese umfasst soziale Stressfaktoren, Bewegungsmuster und Substanzmissbrauch (einschließlich Rauchen) sowie das Ausfüllen eines Fragebogens zu Drogen und Alkohol. Bei Jugendlichen umfasst die Sozialanamnese die Teilnahme an sportlichen Aktivitäten, die Häufigkeit des Fernbleibens von der Schule und die verringerte Teilnahme an Hobbys/Sportarten, insbesondere wenn diese mit dem Menstruationszyklus zusammenhängen.
In der Familienanamnese finden sich Hinweise auf bösartige Erkrankungen, Blutungsstörungen, Unfruchtbarkeit, Menstruationsstörungen, Myome, Endometriose und Schilddrüsenerkrankungen bei Verwandten ersten und zweiten Grades. Eine Familienanamnese von Diabetes mellitus oder Lipid- oder Triglyceridstörungen sollte beachtet werden und kann auf ein polyzystisches Ovarialsyndrom hinweisen.
Bei der Überprüfung der Organsysteme sollten Gewichtsveränderungen, Müdigkeit, Hirsutismus, Akne, Sehstörungen, Kopfschmerzen, Galaktorrhoe, veränderte Stuhlgewohnheiten, Bauchschmerzen, Hitze-/Kälteunverträglichkeit sowie Harn- und Magen-Darm-Symptome berücksichtigt werden. Bei Jugendlichen ist eine Vorgeschichte mit selbst herbeigeführtem Erbrechen, Essstörungen, Unterernährung, leichten Blutungen/Quetschungen (Epistaxis, Zahnfleischbluten) wichtig.