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Kognitive Fehler bei der klinischen Entscheidungsfindung

VonBrian F. Mandell, MD, PhD, Cleveland Clinic Lerner College of Medicine at Case Western Reserve University
Überprüft/überarbeitet Juli 2024
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Obwohl quantitative mathematische Modelle die klinische Entscheidungsfindung unterstützen können, können Ärzte nur selten formale Berechnungen ntzen, um Entscheidungen über Behandlungsmöglichkeiten im klinischen Alltag zu treffen. Vielmehr wird ein intuitives Verständnis von Wahrscheinlichkeiten mit kognitiven Prozessen (Heuristiken) kombiniert, um zu einer klinischen Beurteilung zu kommen (1).

Heuristiken werden oft als Faustregeln oder begründete Vermutungen bezeichnet. Heuristiken beinhalten in der Regel eine Mustererkennung und beruhen auf einer unbewussten Integration von Patientendaten mit früheren Erfahrungen, anstatt auf einer bewussten Erstellung einer strengen Differentialdiagnose, die anhand spezifischer Daten aus der Literatur formal bewertet wird.

Solche informellen Überlegungen sind nützlich, aber fehlbar, da Heuristiken verschiedene Arten von unbewussten Fehlern (kognitive Fehler) verursachen können. Studien deuten darauf hin, dass medizinische Fehler mehr auf kognitive Fehler als auf Mangel an Wissen oder Informationen zurückzuführen sind.

Hinweis

  1. 1. Restrepo D, Armstrong KA, Metlay JP: Annals Clinical Decision Making: Avoiding Cognitive Errors in Clinical Decision Making. Ann Intern Med. 2020;172(11):747-751. doi:10.7326/M19-3692

Arten kognitiver Fehler

Es gibt viele Arten von kognitiven (Denk-)Fehlern, und obwohl es natürlich wichtiger ist, Fehler zu vermeiden, als sie richtig einzuordnen, wenn sie einmal gemacht wurden, kann das Wissen um häufige Arten von kognitiven Fehlern den Ärzten helfen, sie zu erkennen und zu vermeiden.

Kognitive Fehler können grob klassifiziert werden als:

  • Fehlerhafte Beurteilung der Prä-Test-Wahrscheinlichkeit (Überschätzen oder Unterschätzen der Krankheitswahrscheinlichkeit)

  • Unterlassene ernsthafte Prüfung aller relevanten Möglichkeiten

Tipps und Risiken

  • Es gibt zahlreiche benannte Arten von kognitiven Fehlern, aber sie lassen sich in der Regel in zwei Gruppen einteilen: fehlerhafte Einschätzung der Vortestwahrscheinlichkeit und Versäumnis, alle relevanten Möglichkeiten ernsthaft in Betracht zu ziehen.

Beide Fehlerarten können leicht zu unsachgemäßen Tests (zu viel oder zu wenig) und verpassten oder verzögerten Diagnosen führen.

Verfügbarkeitsfehler

Verfügbarkeitsfehler treten auf, wenn Ärzte das Erste wählen, was ihnen in den Sinn kommt. Dadurch kann die tatsächliche Wahrscheinlichkeit einer Krankheit vor dem Test unterschätzt werden, da eine bestimmte Diagnose aufgrund einer kürzlichen oder einprägsamen Erfahrung „verfügbarer“ ist und einem eher in den Sinn kommt.

Erfahrung führt oft zu einer Überschätzung der Wahrscheinlichkeit, wenn es eine Erinnerung an einen Fall gibt, der dramatisch war, bei der es einem Patienten schlecht ergangen war oder eine Anzeige erstattet wurde. Zum Beispiel könnte ein Arzt vor Kurzem eine Lungenembolie bei einer gesunden jungen Frau nicht erkannt haben, die diffuse Beschwerden in der Brust, aber keine weiteren Befunden hatte. Dieser Arzt wird bei dem nächsten scheinbar ähnlichen Fall das Risiko einer Lungenembolie eher überschätzen und eine Angiographie der Brust veranlassen, selbst wenn die Wahrscheinlichkeit niedrig ist.

Auch begrenzte Erfahrung kann zu einer Unterschätzung führen. Ein Assistenzarzt in der Ausbildung, der beispielsweise nur wenige Patienten mit Brustschmerzen gesehen hat, bei denen sich alle als benigne herausgestellt haben, kann eine oberflächliche Untersuchung auf kardiovaskuläre oder thromboembolische Erkrankungen durchführen, selbst bei Patientengruppen, bei denen die Krankheitsprävalenz nicht niedrig ist.

Darstellungsfehler

Ein Repräsentationsfehler liegt vor, wenn sich Ärzte auf das Vorhandensein oder Fehlen klassischer Manifestationen einer Krankheit konzentrieren, ohne die Prävalenz der Krankheit zu berücksichtigen. Zum Beispiel wäre es unklug bei einem dünnen, sportlich und gesund erscheinenden 60-Jährigen, der keine bekannten medizinischen Probleme hat und nun über mehrere Stunden diffuse Beschwerden in der Brust hat, den Myokardinfarkt auszuschließen, weil er dem typischen Vollbild nicht entspricht. Es ist nämlich so, dass ein Myokardinfarkt in der Altersgruppe dieses Mannes durchaus häufig ist und diese Erkrankung einen hohen Grad an Abweichungen in den Manifestationen aufweist. Umgekehrt kann bei einem 20-jährigen, gesunden Mann mit plötzlich auftretenden schweren, scharfen Schmerzen in Brust und Rücken durchaus ein thorakales Aortenaneurysma vermutet werden, da diese klinischen Merkmale bei der Aortendissektion typisch sind. Der kognitive Fehler besteht darin, dass nicht berücksichtigt wird, dass Aortendissektionen bei einem 20-jährigen, ansonsten gesunden Patienten ohne familiäre Anamnese für derartige Ereignisse äußerst selten sind. Daher sollten andere, wahrscheinlichere Ursachen (z. B. Pneumothorax, Pleuritis) zuerst in Betracht gezogen werden. Repräsentationsfehler treten auch auf, wenn Ärzte nicht erkennen, dass positive Testergebnisse (für jeden Test mit einer Spezifität von weniger als 100%) in einer Population, in der die getestete Krankheit selten ist, mit größerer Wahrscheinlichkeit falsch-positiv sind als richtig-positiv.

Vorzeitiger Verschluss

Eine voreilige Schlussfolgerung bedeutet, eine vorläufige Diagnose zu früh zu stellen und unkritisch daran festzuhalten. Dies ist einer der häufigsten Fehler; Ärzte stellen eine Schnelldiagnose (oft basierend auf Mustererkennung), berücksichtigen andere mögliche Diagnosen nicht und hören auf vorzeitig, Daten zu sammeln. Die Verdachtsdiagnose wurde möglicherweise noch nicht einmal durch angemessene Tests bestätigt. Fehler durch vorschnelle Diagnose können in jedem Fall auftreten, sind jedoch besonders häufig, wenn Patienten eine Exazerbation einer schon bekannten Erkrankung zu haben scheinen, z. B. bei einer Frau mit einer langen Geschichte von Migräne, die aufgrund von starken Kopfschmerzen in die Behandlung kommt. Dieser Kopfschmerz wird dann irrtümlich für eine weitere Migräneattacke gehalten, dabei hat sie tatsächlich eine neu aufgetretene Subarachnoidalblutung. Eine Variation der vorschnellen Diagnose tritt auf, wenn nachfolgende Ärzte (z. B. Berater in einem komplizierten Fall) unhinterfragt eine frühere Diagnose akzeptieren, ohne unabhängig eine eigene Diagnose aufgrund einer Erhebung und Überprüfung relevanter Daten zu erarbeiten. Elektronische Patientenakten können vorzeitige Verschlussfehler verschlimmern, weil die falschen Diagnosen, die ursprünglich vielleicht als wahrscheinlich aufgelistet wurden, oft in vielen Notizen verbreitet werden und sich zunehmend als richtig verankern.

Ankereffekt (anchoring errors)

Ein sogenannter Ankereffekt liegt vor, wenn Ärzte standhaft an dem ersten Eindruck festhalten, sogar wenn widersprüchliche und gegenläufige Daten erhoben werden. Zum Beispiel ist eine akute Pankreatitis durchaus plausibel bei einem 60-jährigen Mann, der Schmerzen in der Magengegend und Übelkeit hat, nach vorne gebeugt sitzt und seinen Bauch hält und zudem eine Geschichte von mehreren Anfällen alkoholischer Pankreatitis hat, die sich ähnlich anfühlten wie der jetzige Schmerz. Obwohl der Patient angibt, seit vielen Jahren keinen Alkohol mehr getrunken zu haben und normale Blutwerte für Pankreasenzyme aufweist, könnten Kliniker diese Daten herunterspielen (z. B. der Patient lügt, seine Pankreas ist ausgebrannt, das Labor hat einen Fehler gemacht), wodurch ein Verankerungsfehler entsteht und die genaue Diagnose eines penetrierenden Magenulkus verzögert wird. Kliniker sollten widersprüchliche Daten als Beweis dafür betrachten, dass weiterhin nach einer alternativen Diagnose gesucht werden muss, und nicht als Anomalien, die ignoriert werden können. In einigen Fällen, in denen Verankerungsfehler begangen werden, gibt es anfangs möglicherweise keine Belege (z. B. für die Fehldiagnose), aber diese Fehler werden in der Regel später erkannt.

Confirmation Bias

Bestätigungsverzerrungen sind "Cherry-Picking", d. h. Ärzte akzeptieren selektiv klinische Daten, die eine gewünschte Hypothese unterstützen, und ignorieren Daten, die dies nicht tun. Bestätigungsfehler verstärken oft einen Verankerungsfehler, wenn der Kliniker bestätigende Daten verwendet, um die verankerte Hypothese zu stützen, selbst wenn auch widersprüchliche Beweise vorliegen. Zum Beispiel kann ein Arzt standhaft an seiner Diagnose eines aktuen Koronarsyndroms (ACS) festhalten und dazu selektive Elemente der Anamnese heranziehen, die diese Diagnose stützen können, ohne zu beachten, dass das serielle EKG und die kardialen Enzyme unauffällig sind.

Attributionsfehler

Attributionsfehler beinhalten Entscheidungen, die auf negativen Stereotypen basieren, was dazu führen kann, dass Ärzte die Möglichkeit einer schweren Erkrankung ignorieren oder minimieren. Zum Beispiel könnten Kliniker annehmen, dass ein bewusstloser Patient, der nach Alkohol riecht, betrunken ist, und eine Hypoglykämie, diabetische Ketoazidose, oder intrakranielle Verletzung übersehen, oder sie könnten annehmen, dass ein Patient mit einer Substanzstörung, der Rückenschmerzen hat, einfach nur Drogen sucht, und einen epiduralen Abszess übersehen. Psychiatrische Patienten, die eine körperliche Störung entwickeln, sind besonders anfällig für Zuschreibungsfehler, da sie nicht nur negativen Stereotypen unterliegen können, sondern ihre Symptome oft auf unklare, inkonsistente oder verwirrende Weise beschreiben, was unachtsame Kliniker dazu verleitet, ihre Beschwerden als funktioneller Natur zu betrachten.

Affektive Fehler

Affektiver Fehler bedeutet, dass persönliche Gefühle (positiv oder negativ) über einen Patienten die Entscheidungen beeinflussen. Zum Beispiel unangenehme, aber notwendige Tests oder Untersuchungen aus Zuneigung oder Sympathie für den Patienten vermeiden (z. B. eine Unterleibsuntersuchung und einen Test auf Geschlechtskrankheiten bei einem religiösen Patienten oder einer hochrangigen Führungskraft vermeiden oder Blutkulturen bei einem schwerkranken Patienten mit schlechten Venen anlegen). In ähnlicher Weise beinhaltet affektiver Fehler das Versäumnis, eine Standardbeurteilung bei einem unwahrscheinlichen Patienten zu verfolgen (z. B. Minimierung der Bedeutung der Dyspnoe bei einem verbal missbrauchenden Patienten oder jemand mit chronisch obstruktiver Lungenerkrankung, der weiter raucht).

Risikofaktoren für kognitiver Fehler

Interne und externe Faktoren können das Risiko kognitiver Fehler erhöhen.

Zu den internen Faktoren gehören

  • Medizinische Kenntnisse, Ausbildung und Erfahrung

  • Übermäßiges Vertrauen in sich selbst oder in Berater

  • Müdigkeit/Schlafmangel

  • Gleichgewicht zwischen Risikobereitschaft und Risikoaversion

Zu den externen Faktoren gehören

  • Arbeitsbelastung

  • Ablenkungen

  • Teamressourcenmanagement und Gruppendruck

Minimierung kognitiver Fehler

Einige spezifische Strategien können dabei helfen, kognitive Fehler zu minimieren. Typischerweise wird nach Anamnese und körperlicher Untersuchung eine funktionierende Diagnose aufgrund von Heuristiken gestellt. An diesem Punkt ist es relativ einfach, eine formelle Denkpause einzulegen, und einige Fragen zu beantworten:

  • Wenn es nicht die richtige Diagnose wäre, was sonst könnte es sein?

  • Was sind die gefährlichsten Erkrankungen, die in Frage kämen?

  • Gibt es irgendwelche Belege, die im Widerspruch mit der vorläufigen Diagnose stehen?

Diese Fragen können helfen, die Differenzialdiagnose zu erweitern und Fakten einzuschließen, die aufgrund von kognitiven Fehlern evtl. ignoriert wurden, und weitere Daten zu sammeln.