Psychiatrische Routineuntersuchung

VonMichael B. First, MD, Columbia University
Überprüft/überarbeitet Mai 2022 | Geändert Sept. 2022
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Patienten mit psychischen Beschwerden oder Problemen oder Verhaltensstörungen stellen sich in verschiedenen medizinischen Einrichtungen vor, auch in der Hausarztpraxis oder in Notfallambulanzen. Die Beschwerden oder Sorgen können neu aufgetreten oder durch eine bereits bestehende psychische Problematik bedingt sein. Die Beschwerden können mit der Bewältigung einer körperlichen Erkrankung zusammenhängen oder direkte Auswirkungen einer solchen auf das zentrale Nervensystem sein. Das Vorgehen bei der Beurteilung richtet sich danach, ob die Beschwerden einen Notfall darstellen oder ob sie bei einem geplanten Termin berichtet werden. Bei einem Notfall muss sich ein Arzt stärker auf die aktuelle medizinische Vorgeschichte, die Symptome und das Verhalten konzentrieren, um entscheiden zu können, wie vorzugehen ist. Bei einem geplanten Arzttermin ist eine tiefer gehende Beurteilung angezeigt.

Die routinemäßige psychiatrische Beurteilung umfasst die allgemeinmedizinische und psychiatrische Anamnese sowie die Erhebung des mentalen Status. (Siehe auch the American Psychiatric Association’s Psychiatric Evaluation of Adults Quick Reference Guide, 3rd Edition and American Psychiatric Association: Practice guideline for the psychiatric evaluation of adults.)

Anamnese

Der Arzt muss feststellen, ob der Patient selbst Auskunft zu seiner Krankengeschichte geben kann, d. h., ob der Patient einige Eingangsfragen bereitwillig und schlüssig beantwortet. Wenn das nicht der Fall ist, werden die Informationen von der Familie, Pflegepersonen oder über andere zusätzliche Quellen (z. B. die Polizei) eingeholt. Selbst wenn ein Patient kommunikativ ist, können ihm nahestehende Familienmitglieder, Freunde oder Individualfürsorger eventuell Informationen beisteuern, die der Patient ausgelassen hat. Der Erhalt von zusätzlichen Informationen, die der Arzt nicht erbeten hat, stellt keinen Vertrauensbruch gegenüber dem Patienten dar. Frühere psychiatrische Assessments, Behandlungen und der Grad der Adhärenz gegenüber früheren Behandlungen werden überprüft; diesbezügliche Akten sind nach Entbindung von der Schweigepflicht schnellstmöglich anzufordern.

Führt der Arzt das Anamnesegespräch hastig und gleichgültig oder stellt er bevorzugt geschlossene Fragen (indem er z. B. einem strikten systematischen Übersichtsschema folgt), hält das Patienten eher davon ab, relevante Informationen preiszugeben. Es ist besser, offene Fragen zur Vorgeschichte der derzeitigen Krankheit zu stellen und die Patienten mit eigenen Worten erzählen zu lassen; das ist ähnlich zeitaufwendig und erlaubt es den Patienten, die mit der Krankheit zusammenhängenden sozialen Umstände zu schildern und emotionale Reaktionen zu zeigen.

Im Anamnesegespräch sollte zunächst erkundet werden, was die Notwendigkeit (oder den Wunsch) einer psychiatrischen Beurteilung ausgelöst hat (z. B. unerwünschte oder unangenehme Gedanken, unerwünschtes Verhalten), einschließlich der Frage, wie sehr die vorliegenden Symptome den Patienten beeinträchtigen oder sein soziales, berufliches und zwischenmenschliches Funktionieren beeinträchtigen. Der Untersucher versucht dann, eine breitere Perspektive auf die Persönlichkeit des Patienten zu gewinnen, indem er wichtige Lebensereignisse - aktuelle und vergangene - und die Reaktionen des Patienten darauf untersucht (siehe Tabelle Bereiche, die bei der psychiatrischen Erstbeurteilung zu berücksichtigen sind). Die psychiatrische, medizinische, Sozial- und Entwicklungsanamnesen werden ebenfalls bewertet.

Eine Überprüfung der Organsysteme auf andere Symptome, die nicht im Rahmen der psychiatrischen Anamnese beschrieben werden, ist wichtig. Die Konzentration nur auf die präsentierenden Symptome unter Ausschluss der Vorgeschichte und anderer Symptome kann dazu führen, dass eine falsche Primärdiagnose gestellt wird (und somit die falsche Behandlung empfohlen wird) und andere psychiatrische oder medizinische Komorbiditäten fehlen. z. B. wenn man bei einem Patienten mit Depression nicht nach vergangenen manischen Episoden fragt, könnte dies zu einer falschen Diagnose führen. der Major Depression statt der bipolaren Störung. Die Überprüfung der Systeme und der Anamnese sollte Fragen zu neuen oder kürzlich aufgetretenen körperlichen Symptomen, Diagnosen und aktuellen Medikamenten und Behandlungen umfassen, um mögliche körperliche Ursachen von psychischen Symptomen zu identifizieren (z. B. COVID-19 als mögliche Ursache von Angstzuständen oder Depressionen).

Tabelle
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Das sich ergebende Persönlichkeitsprofil kann auf adaptive Persönlichkeitsmerkmale hinweisen (z. B. Offenheit für Erfahrungen, Pflichtbewusstsein) und auf solche, die für eine schlechte Anpassung sprechen (z. B. Ichbezogenheit, Abhängigkeit, geringe Frustrationstoleranz), und die verwendeten Copping-Mechanismen aufzeigen. Das Gespräch kann Obsessionen (unerwünschte und belastende Gedanken oder Impulse), Zwänge (exzessive, sich wiederholende, zielgerichtete Verhaltensweisen, zu denen sich eine Person getrieben fühlt) und Wahnvorstellungen (feste falsche Überzeugungen, an denen trotz gegenteiliger Beweise festgehalten wird) aufdecken und feststellen, ob sich der Leidensdruck in körperlichen Symptomen (z. B. Kopf- oder Bauchschmerzen), psychischen Symptomen (z. B. phobisches Verhalten, Depressionen) oder sozialem Verhalten (z. B. Rückzug, Aufsässigkeit) äußert. Der Patient sollte ebenfalls nach seiner Einstellung gegenüber psychiatrischen Behandlungen, inkl. Medikamenten und Psychotherapie, gefragt werden, damit diese Information im Behandlungsplan berücksichtigt werden kann.

Der Gesprächsleiter sollte feststellen, ob eine körperliche Erkrankung oder ihre Behandlung eine psychische Störung verursacht oder diese verschlechtert (siehe Medizinische Beurteilung eines Patienten mit psychischen Symptomen). Über die direkten Auswirkungen (z. B. Symptome, inkl. mentale) hinaus verursachen viele körperliche Erkrankungen enormen Stress, und es sind Bewältigungsstrategien erforderlich, um den krankheitsbedingten Druck auszuhalten. Viele Patienten mit schweren körperlichen Erkrankungen weisen bis zu einem gewissen Grad eine Anpassungsstörung auf; Patienten mit einer zugrunde liegenden psychischen Störung können instabil werden.

Den Patienten während der Anamneseerhebung zu beobachten, kann Hinweise auf psychische Störungen oder körperliche Erkrankungen liefern. So kann die Körpersprache Einstellungen und Gefühle sichtbar machen, die der Patient leugnet. Zappelt der Patient z. B. und läuft er hin und her, obwohl er jegliche Angst abstreitet? Scheint der Patient traurig zu sein, obwohl er depressive Gefühle verneint? Das allgemeine Erscheinungsbild kann ebenfalls Hinweise liefern. Ist der Patient z. B. sauber, und achtet er auf sein Äußeres? Sind ein Zittern oder herabhängende Gesichtszüge zu erkennen?

Erhebung des mentalen Status

Eine psychische Statusuntersuchung verwendet Beobachtungen und Fragen, um verschiedene Bereiche der psychischen Funktion zu bewerten, darunter

  • Sprache

  • Emotionaler Ausdruck

  • Denken und Wahrnehmung

  • Kognitive Funktionen

Zur Feststellung bestimmter Komponenten der Erhebung des mentalen Status stehen kurze standardisierte Fragebögen zur Verfügung, inkl. spezieller Fragebögen zur Beurteilung von Orientierung und Gedächtnis. Solche standardisierten Beurteilungen können bei einem routinemäßigen Besuch in der Arztpraxis eingesetzt werden, um die Patienten zu untersuchen; ein solches Screening kann dazu beitragen, die wichtigsten Symptome zu ermitteln und eine Ausgangsbasis für die Messung des Ansprechens auf die Behandlung zu schaffen. Screening-Instrumente können jedoch eine umfassendere und detaillierte Erhebung des mentalen Status nicht ersetzen.

Das allgemeine Erscheinungsbild sollte auf nonverbale Hinweise auf zugrunde liegende Störungen geprüft werden. Zum Beispiel kann das Aussehen der Patienten helfen festzustellen, ob sie

  • Sind nicht in der Lage, sich selbst zu versorgen (z. B. erscheinen sie unterernährt, zerzaust oder unangemessen für das Wetter gekleidet oder haben einen erheblichen Körpergeruch)

  • Sind nicht in der Lage oder nicht bereit, soziale Normen einzuhalten (z. B. sind sie in sozial unangemessener Kleidung gekleidet)

  • Drogenkonsum oder Selbstverletzungsversuch (z. B. Alkoholgeruch, Narben, die auf IV-Drogenmissbrauch oder Selbstverletzung hindeuten).

Die Sprache kann anhand von Spontaneität, Syntax, Geschwindigkeit und Lautstärke beurteilt werden. Ein Patient mit Depression spricht evtl. eher langsam und leise, ein Patient mit Manie eher schnell und laut. Anomalien wie Dysarthrien und Aphasien können eine körperliche Ursache der mentalen Veränderungen wie eine Kopfverletzung, einen Schlaganfall, einen Hirntumor oder multiple Sklerose anzeigen.

Der emotionale Ausdruck kann beurteilt werden, indem man die Patienten bittet, ihre Gefühle zu beschreiben. Tonlage, Haltung, Gestik und Mimik des Patienten sind zu berücksichtigen. Die Stimmung (vom Patienten angegebener emotionaler Zustand) und der Affekt (Ausdruck des emotionalen Zustands des Patienten, wie er vom Fragesteller beobachtet wird) sollten bewertet werden. Der Affekt und seine Reichweite (d. h. voll oder eingeschränkt) sollten ebenso beachtet werden wie die Angemessenheit des Affekts auf den Gedankeninhalt (z. B. geduldiges Lächeln während der Diskussion eines tragischen Ereignisses).

Denken und Wahrnehmung lassen sich beurteilen, indem nicht nur darauf geachtet wird, was kommuniziert wird, sondern auch darauf, wie es kommuniziert wird. Anormale Inhalte können folgende Formen annehmen:

  • Wahnvorstellungen (falsche, feste Überzeugungen)

  • Wahnhafte Eigenbeziehung (Vorstellung des Patienten, dass alltägliche Vorkommnisse eine spezielle Bedeutung nur für ihn haben, nur seinetwegen geschehen oder gegen den Patienten gerichtet sind)

  • Obsessionen (wiederkehrende, anhaltende, unerwünschte und aufdringliche Gedanken, Triebe oder Bilder)

Der Arzt kann feststellen, ob die Gedankengänge miteinander verbunden und zielgerichtet zu sein scheinen und ob die Gedankenübergänge logisch sind. Psychotische oder manische Patienten können unter desorganisiertem Denken oder abrupter Ideenflucht leiden.

Kognitive Funktionen schließen folgendes beim Patienten ein

  • Stufe der Aufmerksamkeit

  • Aufmerksamkeit oder Konzentration

  • Orientierung bzgl. Person, Ort und Zeit

  • Sofortiges, Kurzzeit- und Langzeit- Gedächtnis

  • Abstraktes Denken

  • Einblick

  • Urteilsvermögen

Kognitive Anomalien finden sich am häufigsten bei Delir oder Demenz oder bei Substanzintoxikation oder -entzug, sie können aber auch bei Depression vorkommen.

Weitere Informationen

Im Folgenden finden Sie eine englischsprachige Quelle, die nützlich sein könnte. Bitte beachten Sie, dass das MSD-Manual nicht für den Inhalt dieser Quellen verantwortlich ist.

  1. American Psychiatric Association: Practice guideline for the psychiatric evaluation of adults