Medizinische Therapieentscheidungen

VonBrian F. Mandell, MD, PhD, Cleveland Clinic Lerner College of Medicine at Case Western Reserve University
Überprüft/überarbeitet Juli 2024
DIE AUSGABE FÜR MEDIZINISCHE FACHKREISE ANSEHEN

Bevor die Entscheidung für eine bestimmte Behandlung fällt, müssen die möglichen Behandlungsrisiken gegen den Therapienutzen abgewogen werden. (Siehe auch Überblick über die medizinische Entscheidungsfindung und die wissenschaftliche Medizin.)

Gemeinsamer Entscheidungsprozess

Früher war es üblich, dass Ärzte Entscheidungen für ihre Patienten trafen, ohne dass diese sich dazu äußern konnten und ohne dass ihnen die Ärzte die Risiken und den Nutzen aller verfügbaren Therapien erklärten. Dieser Ansatz ist heute generell inakzeptabel.

Da es das Ziel der Therapie ist, den Ausgang zu verbessern, und zwar laut den Zielen und Wertvorstellungen des Patienten selbst (siehe Ziele festlegen), treffen Ärzte nun gemeinsam mit dem Patienten eine Entscheidung. Der Informationsaustausch erfolgt über 2 Wege:

  • Die Ärzte informieren die Patienten über verfügbare Behandlungen sowie deren Risiken und Nutzen.

  • Die Patienten wiederum informieren die Ärzte über ihren Lebensstil, ihre Vorlieben und Wertvorstellungen.

Anschließend besprechen Arzt und Patient die Behandlungsmöglichkeiten und einigen sich auf den bestmöglichen Behandlungsplan. Ein gemeinsamer Entscheidungsprozess heißt nicht, dass die Ärzte die Patienten ganz alleine aus vielen, teilweise sehr verwirrenden Behandlungsmöglichkeiten wählen lassen. Sie sprechen weiterhin auf Grundlage des Versorgungsstandards sowie der besten medizinischen Nachweise eine Empfehlung aus. Allerdings legen sie auch die Gründe für diese Empfehlungen dar sowie die Überlegungen, warum sie die Bedürfnisse und Ziele des einzelnen Patienten erfüllen bzw. verfolgen. Bei einem gemeinsamen Entscheidungsprozess leiten die Ärzte ihre Patienten durch den Entscheidungsprozess, ohne sie zu bevormunden, aber auch ohne sie alleine zu lassen.

In manchen Fällen müssen die Patienten mit ihren Ärzten gemeinsam eine Einscheidung ausarbeiten, in der die Lebensqualität berücksichtigt wird. Eine aggressive Krebstherapie beispielsweise kann zwar das Leben verlängern, aber auch schwere Nebenwirkungen mit sich bringen, welche die Lebensqualität erheblich schmälern. Ob der Person Lebensqualität oder Lebensverlängerung wichtig ist und wie gut diese Person mit Risiken und Unsicherheiten umgehen kann, spielen bei den Therapiezielen eine Rolle und legen letztlich fest, welche medizinischen Eingriffe durchgeführt werden. Die Lebensqualität betreffende Aspekte können gerade bei älteren Menschen eine große Rolle spielen (siehe therapeutische Ziele bei älteren Menschen).

Bisweilen können Patienten aufgrund bestimmter Krankheiten wie Demenz, die sich auf ihr Denkvermögen auswirken, keine Entscheidungen mehr treffen. Manchmal haben sie schwere Krankheiten wie Delir oder Koma, die sich auf ihre Bewusstseinslage auswirken. In solchen Fällen bittet der Arzt die nächsten Angehörigen oder den Inhaber einer Vollmacht für medizinische Angelegenheiten (Vormundschaft), die Therapieentscheidungen zu treffen.

Wussten Sie ...

  • Bevor ein Arzt eine Therapie empfiehlt, wägt er mögliche Risiken und Vorteile ab.

  • Die Ergebnisse von Forschungsstudien müssen sorgfältig beurteilt werden, um festzustellen, ob sie auf eine bestimmte Person übertragbar sind.

Abwägen von Risiken und Nutzen

Ärzte informieren über die Risiken und Nutzen der verfügbaren Behandlungen auf der Grundlage ihrer Ausbildung, ihrer Erfahrungen sowie der Ergebnisse klinischer Studien.

Risiken bezeichnen die Wahrscheinlichkeit, dass es zu schädlichen Folgen kommt, wie der Verschlechterung der Erkrankung oder einer Nebenwirkung. Wie Risiken beschrieben werden, kann einen großen Unterschied machen. Nimmt man beispielsweise an, dass in einer klinischen Studie ein neues Medikament zur Vorbeugung eines Schlaganfalls mit einem etablierten Medikament verglichen wird. Die Ergebnisse zeigen, dass das neue Medikament bei 2 Prozent der Personen zur Nebenwirkung „Blutungen“ führt, während diese bei dem bereits verfügbaren Medikament bei 1 Prozent liegt.

  • Die Ergebnisse lassen sich nun so darstellen, dass das neue Medikament „doppelt so viele Blutungen“ verursacht (Anstieg des relativen Risikos).

  • Es wäre aber genauso richtig, zu sagen, dass das neue Medikament „die Wahrscheinlichkeit einer Blutung um nur 1 Prozentpunkt erhöht“ (Anstieg des absoluten Risikos).

In diesem Beispiel klingt das neue Medikament aufgrund des doppelt so hohen relativen Risikos extrem gefährlich. Betrachtet man jedoch den Anstieg des absoluten Risikos um 1 Prozentpunkt, scheint die Gefahr dagegen minimal. Befürwortet eine Person nun etwas oder ist dagegen, wird sie für gewöhnlich die Risikobeschreibung wählen, die ihre Meinung am besten unterstreicht. Ärzte können ihren Patienten die Risikoeinschätzungen erklären und sie bei einer überlegten Entscheidung unterstützen.

Der Nutzen einer Behandlung kann Folgendes sein:

  • Heilung der Krankheit (größter Nutzen und höchstes Ziel)

  • Verminderung der Symptome (z. B. weniger Schmerzen)

  • Funktionsverbesserung (z. B. längere Strecken gehen können)

  • Reduzierte Wahrscheinlichkeit für Komplikation einer Krankheit (z. B. Herzinfarkt bei Diabetes-Patienten)

Nach Abwägen der Risiken und des Nutzens einer Behandlung sowie unter Berücksichtigung der Ziele und Vorlieben des Patienten kann der Arzt einen speziellen Behandlungsplan vorschlagen. Dieser Prozess kann aus folgenden Gründen jedoch bisweilen kompliziert sein:

  • Für eine Erkrankung steht möglicherweise nicht „die beste“ Behandlung zur Verfügung.

  • Der Konflikt zwischen Risiken und Nutzen kann vielfältig und schwer zu überblicken sein.

Durchblick verschaffen

Da medizinische Informationen komplex sein können, sollten medizinische Fachkräfte eine Perspektive auf die potenziellen Risiken und Nutzen bieten. Beispielsweise wird in den Vereinigten Staaten die Werbung für verschiedene Medikamente im Fernsehen und in Zeitschriften von einer langen Liste möglicher Nebenwirkungen begleitet, von leicht bis schwerwiegend. Allerdings fehlen in dieser Werbung Informationen zu folgenden Aspekten:

  • Bei wie vielen Personen kommt es zu diesen Nebenwirkungen?

  • Welche Folgen haben diese Nebenwirkungen?

  • Welche Folgen hat es, wenn die Krankheit nicht behandelt wird?

Die Folge ist, dass eine Person, die von einer Behandlung stark profitieren könnte, das Medikament möglicherweise aus Angst vor einer oder mehreren in der Werbung genannten Nebenwirkungen (die aber vielleicht nur bei einer 1 von 100 Personen auftreten) ablehnt.

Zum Beispiel setzen viele Patienten mit hohem Blutdruck die Behandlung ab, da das Medikament bei ihnen Nebenwirkungen verursacht. Die Ärzte können den Patienten erklären, dass die Behandlung des hohen Blutdrucks (auch wenn es ihnen aktuell gut geht) wichtig ist, da dadurch die Wahrscheinlichkeit eines Herzinfarkts, eines Schlaganfalls oder einer Niereninsuffizienz – Hauptursachen für Todesfälle und Behinderungen in den Vereinigten Staaten – erheblich reduziert wird. Wenn die Patienten wissen, dass Nebenwirkungen durch die Anwendung eines anderen Medikaments oder einer anderen Dosis vermieden oder minimiert werden können, sind sie möglicherweise gewillter, die Risiken einer Behandlung zu akzeptieren. Dagegen sind die Auswirkungen eines Herzinfarkts oder Schlaganfalls häufig schwer, irreversibel und lebensbedrohlich. Das bedeutet, dass der mögliche Nutzen eines Blutdruckmedikaments die möglichen Risiken bei den meisten Personen stark überwiegt.

Auch kann der Arzt den Patienten aufklären, indem er die Lebensumstände des Patienten mit denen der Personen vergleicht, bei denen das Medikament oder die Behandlung ursprünglich in einer klinischen Studie untersucht wurde. Beispielsweise ist es möglich, dass eine Person, die stärker erkrankt ist als die ursprünglich untersuchten, weniger von einem Medikament profitiert und einem größeren Risiko ausgesetzt ist. Dagegen können die Ergebnisse bei jemandem, der gesünder ist als die Personen, bei denen das Medikament ursprünglich untersucht wurde, besser sein als in der Studiengruppe.