Polyzythämie bezeichnet den pathologischen Anstieg der Erythrozytenmenge, bei Neugeborenen definiert als Hämatokrit ≥ 65%; dieser Anstieg kann zur Hyperviskosität durch Aggregation von Blut bzw. Erythrozyten in den Gefäßen und manchmal zur Thrombose führen. Die wichtigsten Symptome und Anzeichen der Neugeborenen-Polyzythämie sind unspezifisch und umfassen rötliche Gesichtshaut, Schwierigkeiten bei der Nahrungsaufnahme, Lethargie, Hypoglykämie, Hyperbilirubinämie, Zyanose, Atemnot und Krampfanfälle. Die Diagnose wird klinisch nach einer arteriellen oder venösen Hämatokrit-Messung gestellt. Als Behandlung kommt die partielle Austauschtransfusion infrage.
(Prä- und perinatale Veränderungen der Erythropoese werden in Perinatale Physiologie behandelt.)
Die Begriffe Polyzythämie und Hyperviskositätssyndrom werden oft synonym verwendet, bedeuten aber nicht dasselbe. Die Polyzythämie ist nur deshalb relevant, weil sie das Risiko für ein Hyperviskositätssyndrom erhöht. Hyperviskosität ist ein klinisches Syndrom, das durch die Aggregation der Erythrozyten in den Blutgefäßen verursacht wird. Es kommt deshalb zur Aggregation, weil die größere Masse an Erythrozyten zu einem relativen Abfall des Plasmavolumens und einem relativen Anstieg von Proteinen und Thrombozyten führt.
Die Inzidenz von Polyzythämie liegt bei etwa 3–4% (in einem Bereich von 0,4–12%); etwa die Hälfte der Säuglinge mit Polyzythämie haben das Hyperviskositätssyndrom.
Ätiologie der perinatalen Polyzythämie und des Hyperviskositätssyndroms
Die Dehydratation kann durch die relative Hämokonzentration und einen Anstieg des Hkt einer Polyzythämie ähneln, allerdings ist die Menge der Erythrozyten nicht erhöht.
Zu den Ursachen einer echten Polyzythämie gehören:
Intrauterine Hypoxie
Perinatale Asphyxie
Plazentatransfusion (einschließlich Twin-to-Twin-Transfusion)
Einige angeborene Anomalien (z. B. zyanotische kongenitale Herzerkrankung, renovaskuläre Fehlbildungen, kongenitale Nebennierenhyperplasie)
Bestimmte Entbindungsverfahren (z. B. übermäßig verzögertes Abklemmen der Nabelschnur, Halten des Neugeborenen unterhalb des Niveaus der Mutter vor dem Abklemmen der Nabelschnur, Ausstreifen der Nabelschnur in Richtung des Neugeborenen bei der Entbindung)
Mütterlicher Insulin-abhängiger Diabetes
Down-Syndrom oder andere Trisomien
Beckwith-Wiedemann-Syndrom
Polyzythämie ist auch häufiger, wenn die Mutter in großer Höhe lebt.
Frühgeborene entwickeln nur selten ein Hyperviskositätssyndrom.
Symptome und Anzeichen der perinatalen Polyzythämie und des Hyperviskositätssyndroms
Symptome und Befunde des Hyperviskositätssyndroms entsprechen denen der Herzinsuffizienz, der Thrombose (zerebraler und renaler Gefäße) und der Dysfunktion des Zentralnervensystems einschließlich Tachykardie, Atemnot, Zyanose, Plethora, Apnoe, Lethargie, Irritabilität, Hypotonie, Zittern, Krampfanfälle und Probleme bei der Nahrungsaufnahme. Eine Nierenvenenthrombose kann zu renalen Tubulusschäden, Proteinurie oder beidem führen.
Diagnose der perinatalen Polyzythämie und des Hyperviskositätssyndroms
Hämatokrit
Klinische Bewertung
Die Diagnose der Polyzythämie wird anhand des arteriellen oder venösen (nicht kapillaren) Hämatokrits gestellt, da Kapillarproben den Hämatokrit häufig überschätzen. Die meisten publizierten Studien zur Polyzysthemie basieren auf zentrifugierten Hämatokrit-Werten, die in aller Regel nicht mehr routinemäßig gemacht werden und im Allgemeinen höher sind als automatisch bestimmten Werte.
Eine Diagnose des Hyperviskositätssyndroms erfolgt klinisch. Die Bestimmung der Viskosität wird in den meisten Laboren nicht routinemäßig durchgeführt.
Andere Laboranomalien können niedrige Blutzucker- und Kalziumionenspiegel, Hinweise auf Erythrozytenlyse, Thrombozytopenie (sekundär durch Verbrauch bei Thrombose), Hyperbilirubinämie (verursacht durch den Umsatz einer höheren Anzahl von Erythrozyten), Retikulozytose und erhöhte periphere kernhaltige Erythrozyten (verursacht durch erhöhte Erythropoese infolge fetaler Hypoxie) umfassen.
Behandlung der perinatalen Polyzythämie und des Hyperviskositätssyndroms
IV-Hydratation
Manchmal Phlebotomie mit zusätzlichem Kochsalzlösungsersatz (partielle Austauschtransfusion)
Asymptomatische Säuglinge sollten mit intravenöser Flüssigkeitsgabe versorgt werden (siehe Behandlung der Dehydrierung bei Kindern).
Symptomatische Säuglinge mit einem Hämatokrit-Wert > 65–70% sollten einer isovolämischen Blutverdünnung unterzogen werden (manchmal auch partielle Austauschtransfusion genannt, obwohl keine Blutprodukte gegeben werden), um den Hämatokrit-Wert auf ≤ 55% zu verringern und damit die Viskosität des Blutes zu reduzieren. Ein partieller Austausch erfolgt durch eine Blutabnahme in Portionen von 5 ml/kg und den sofortigen Ersatz durch das gleiche Volumen einer 0,9%igen Kochsalzlösung. Asymptomatische Säuglinge, deren Hämatokrit-Wert trotz Hydratation anhaltend > 70% bleibt, profitieren möglicherweise ebenfalls von dieser Maßnahme.
Obgleich viele Studien zeigen, dass ein partieller Austausch einen messbaren Soforteffekt hat, ist der langfristige Nutzen weiter fraglich. In den meisten Studien wird kein Nachweis über Unterschiede im langfristigen Wachstum oder der neurologischen Entwicklung von Kindern mit und ohne erfolgte partielle Austauschtransfusion in der Neugeborenenperiode erbracht.
Wichtige Punkte
Eine Polyzythämie besteht bei Neugeborenen mit einem venösen Hämatokrit-Wert ≥ 65%.
Hyperviskosität ist ein klinisches Syndrom mit Aggregation von Blut in den Gefäßen und ggf.Thrombose.
Erscheinungsformen sind vielfältig und können schwerwiegend sein (Herzinsuffizienz, Thrombose [zerebrale und renale Gefäße], Dysfunktion des Zentralnervensystems) oder leicht (Zittern, Lethargie oder Hyperbilirubinämie).
Behandlung mit IV-Hydratation und ggf. mit partieller Transfusion.