Bericht: Mit den Mythen über multiple Sklerose aufräumen
Kommentar13.04.17 Michael C. Levin, MD, Multiple Sclerosis Research Chair, Professor of Neurology, University of Saskatchewan

Obwohl multiple Sklerose (MS) eine der häufigsten Krankheiten mit Auswirkungen auf das Zentralnervensystem ist, gibt es gewisse Missverständnisse und veraltete Vorurteile über dieses Leiden.

Die Gründe dafür bestehen darin, dass relativ wenig über die Ursachen der MS bekannt ist und die Krankheit jeden Betroffenen auf unterschiedliche Weise befällt. Jedes Jahr werden rund 10.000 neue Fälle diagnostiziert, und die Symptome können sich von Person zu Person erheblich unterscheiden.

Diese breite Palette von Symptomen und Erfahrungen bringt es mit sich, dass sich Personen und ihre Angehörigen hinsichtlich persönlicher Erwartungen häufig auf andere verlassen müssen, was zu zahlreichen Mythen über die Krankheit führt. Indem wir mit einigen verbreiteten Mythen aufräumen, können wir das Verständnis für die Krankheit verbessern und Personen mit MS dabei helfen, sich sachkundiger mit ihren Angehörigen und Ärzten zu unterhalten.

Zunächst eine kurze Einführung in die multiple Sklerose. MS ist eine Krankheit, bei der Flecken von Myelin (die Substanz, welche die meisten Nervenfasern ummantelt) und darunter liegende Nervenfasern im Gehirn, in den Sehnerven und im Rückenmark beschädigt oder zerstört werden. Es handelt sich hierbei um eine Autoimmunkrankheit, bei der das Immunsystem den eigenen Körper attackiert.

Ärzte haben wenigstens vier Krankheitsarten identifiziert. Innerhalb dieser fällt MS allgemein unter zwei große Gruppen:

  • Schubförmig: Die Patienten erleben Zeiten mit schweren Symptomen, gefolgt von Zeiträumen des Abklingens mit wenigen oder keinerlei Symptomen. Dies ist die häufigste Form von multipler Sklerose.
  • Fortschreitend: Die Patienten erleben eine allmähliche Verschlimmerung der Erkrankung ohne ersichtliches Abklingen oder symptomfreie Zeiträume.

Schauen wir uns einige der am meisten verbreiteten Mythen um die multiple Sklerose an und gehen der Sache auf den Grund.

Mythos 1: Alle an multipler Sklerose Erkrankten enden im Rollstuhl.

Falsch. Die multiple Sklerose verläuft von Person zu Person ganz unterschiedlich; groß angelegte Studien haben jedoch aufgezeigt, dass es nach der Entstehung der Krankheit im Durchschnitt 15 bis 20 Jahre lang dauert, bis man einen Gehstock benötigt. Eine laufende Behandlung kann diesen Fortschritt sogar noch weiter hinauszögern. Drei von vier Menschen mit multipler Sklerose brauchen nie einen Rollstuhl. Bei rund 40 Prozent werden normale Tätigkeiten nicht beeinträchtigt.

Mythos 2: Frauen mit multipler Sklerose sollten nicht schwanger werden.

Falsch. Tatsache ist, dass die Rückfallquoten während der Schwangerschaft sogar zurückgehen, was höchstwahrscheinlich mit der Hormonproduktion zusammenhängt. Rückfälle nach der Schwangerschaft treten auf, aber in fast allen Fällen nicht häufiger als vor der Schwangerschaft.

Mythos 3: Personen mit multipler Sklerose sollten körperliche Ertüchtigung meiden.

Falsch. Es besteht kein Grund, warum Menschen mit multipler Sklerose sich nicht körperlich betätigen sollten, und in einigen Fällen können Dehnungsübungen Muskelkrämpfe lindern. Hitze führt häufig zu einer Verschlimmerung der Symptome, und daher sollte eine Überhitzung bei körperlichen Aktivitäten vermieden werden.

Mythos 4: Erkennung und Diagnose der multiplen Sklerose sind schwierig.

Falsch (mehr oder weniger). Obwohl viele Menschen jahrelang leiden, bevor bei ihnen multiple Sklerose diagnostiziert wird, sind die Auswirkungen der Erkrankung auf das Zentralnervensystem (Gehirn und Wirbelsäule) häufig relativ einfach mit Bildgebungsverfahren (Scans) zu erkennen.

Obwohl das Erkennen der Krankheit auf der Bildgebung normalerweise nicht schwierig ist, dauert es oft eine Weile, bis die Notwendigkeit für diese Tests erkannt wird. Viele Frühsymptome treten häufig auf, sind jedoch nicht MS-spezifisch. Patienten mit der fortschreitenden Form von multipler Sklerose nehmen häufig zuerst Schwierigkeiten beim Gehen und ein Taubheitsgefühl von der Hüfte abwärts wahr. Frühsymptome bei schubförmigen Fällen können den Verlust des Sehvermögens auf einem Auge und ein Taubheitsgefühl in beiden Beinen mit sich bringen. Viel zu häufig wird bis zum dritten oder vierten Symptomschub gewartet, bevor ein Arzt aufgesucht wird. Bis dann schließlich der Arzttermin wahrgenommen wird, sind die Symptome möglicherweise abgeklungen.

Mythos 5: Jeder hat das gleiche Risiko, an multipler Sklerose zu erkranken.

Falsch. Wie die meisten Autoimmunkrankheiten tritt die multiple Sklerose wesentlich häufiger bei Frauen auf als bei Männern (im Verhältnis von ungefähr 2 : 1). Die fortschreitende Form der multiplen Sklerose tritt jedoch etwas häufiger bei Männern auf.

Mehrere Faktoren können das Risiko für die Entstehung einer multiplen Sklerose erhöhen; dazu gehören ein niedriger Vitamin-D-Spiegel, Rauchen und Fettleibigkeit. Dies sind keine Verursachungen, aber sie erhöhen geringfügig das Risiko einer Person. Erbanlagen sind ebenfalls ein Faktor. Die Chancen einer Einzelperson, an MS zu erkranken, sind ein wenig größer, wenn jemand in dessen Familie an dieser Krankheit leidet. Und schließlich sind sehr wenige Fälle in Äquatornähe bekannt; die Krankheit tritt häufiger bei Menschen auf, die ihr frühes Leben eher in nördlichen Gebieten in kühleren Klimazonen verbracht haben. Dies kann mit der Sonneneinstrahlung zusammenhängen, welche den Vitamin-D-Spiegel beeinflusst.

Mythos 6: Multiple Sklerose kann geheilt werden

Falsch. Bedauerlicherweise gibt es derzeit keine Heilung für die multiple Sklerose. Ärzte wenden häufig kurzfristige Kortikosteroid-Behandlungen bei Anfällen und Krankheitsschüben an; diese Medikamente tragen allerdings wenig bis gar nicht dazu bei, den Fortschritt der Krankheit zu beeinflussen.

Neue Behandlungsmöglichkeiten befinden sich jedoch in stetiger Entwicklung. Innerhalb der letzten zwei Jahrzehnte sind mehr als ein Dutzend neue Behandlungen und Medikamente eingeführt worden. Diese Behandlungen verzögern den Fortschritt der Krankheit und ermöglichen den Patienten, ein ausgefüllteres und gesünderes Leben zu führen.

Dr. Michael Levin