Eine ängstlich-vermeidende Persönlichkeitsstörung ist durch die Vermeidung von sozialen Situationen oder Interaktionen gekennzeichnet, die das Risiko der Zurückweisung, Kritik oder Demütigung beinhalten. Die Diagnose wird aufgrund der klinischen Kriterien gestellt. Die Behandlung besteht aus Psychotherapie, Anxiolytikum und Antidepressiva.
(Siehe auch Persönlichkeitsstörungen im Überblick.)
Menschen mit ängstlich-vermeidender Persönlichkeitsstörung haben intensive Gefühle der Unzulänglichkeit und bewältigen diese maladaptiv, indem sie alle Situationen vermeiden, in denen sie negativ bewertet werden könnten.
Die berichtete Prävalenz der ängstlich-vermeidenden Persönlichkeitsstörung in den Vereinigten Staaten schwankt, wird aber auf etwa 2,1% geschätzt (1). In Gemeinschaftserhebungen sind Frauen häufiger von einer vermeidenden Persönlichkeitsstörung betroffen als Männer, wenngleich der Unterschied gering ist (2).
Komorbiditäten sind häufig. Die Patienten leiden oft auch unter Major Depression, persistierender Depression, Zwangsstörungen oder Angststörung (z. B. Panikstörung, insbesondere soziale Phobie [soziale Angststörung]) (3, 4 ). Sie können auch eine andere Persönlichkeitsstörung haben (z. B. abhängige Persönlichkeitsstörung, Borderline-Persönlichkeitsstörung). Patienten mit sozialer Phobie und ängstlich-vermeidender Persönlichkeitsstörung haben schwerwiegendere Symptome und Beeinträchtigungen als Patienten mit einer der beiden Erkrankungen allein.
Allgemeine Literatur
1. Morgan TA, Zimmerman M: Epidemiology of personality disorders. In Handbook of Personality Disorders: Theory, Research, and Treatment. 2nd ed, edited by WJ Livesley, R Larstone, New York, NY: The Guilford Press, 2018, pp. 173-196.
2. Grant BF, Hasin DS, Stinson FS, et al: Prevalence, correlates, and disability of personality disorders in the United States: Results from the national epidemiologic survey on alcohol and related conditions. J Clin Psychiatry 65: 948-958, 2004. doi: 10.4088/jcp.v65n0711
3. Grant BF, Hasin DS, Stinson FS, et al: Co-occurrence of 12-month mood and anxiety disorders and personality disorders in the US: results from the national epidemiologic survey on alcohol and related conditions.J Psychiatr Res 39(1):1-9, 2005. doi: 10.1016/j.jpsychires.2004.05.004
4. Zimmerman M, Rothschild L, Chelminski I: The prevalence of DSM-IV personality disorders in psychiatric outpatients. Am J Psychiatry 162:1911-1918, 2005. doi: 10.1176/appi.ajp.162.10.1911
Ätiologie der ängstlich-vermeidenden Persönlichkeitsstörung
Forschungsergebnisse deuten darauf hin, dass Erfahrungen von Ablehnung und Ausgrenzung in der Kindheit sowie angeborene Merkmale von sozialer Ängstlichkeit und Vermeidungsverhalten zur ängstlich-vermeidenden Persönlichkeitsstörung beitragen können (1, 2). Vermeidung in sozialen Situationen wurden bereits im Alter von 2 Jahren nachgewiesen.
Literatur zur Ätiologie
1. Joyce PR, McKenzie JM, Luty SE, et al: Temperament, childhood environment and psychopathology as risk factors for avoidant and borderline personality disorders. Aust N Z J Psychiatry 37(6):756-764, 2003. doi: 10.1080/j.1440-1614.2003.01263.x
2. Eikenaes I, Egeland J, Hummelen B, et al: Correction: Avoidant personality disorder versus social phobia: The significance of childhood neglect. PLoS One 15;10(5):e0128737, 015. doi: 10.1371/journal.pone.0128737
Symptome und Anzeichen der ängstlich-vermeidenden Persönlichkeitsstörung
Patienten mit einer ängstlich-vermeidenden Persönlichkeitsstörung meiden soziale Interaktionen, auch am Arbeitsplatz, weil sie befürchten, kritisiert oder abgelehnt zu werden oder dass man sie missbilligt, wie in den folgenden Situationen:
Sie können eine Förderung ablehnen, weil sie fürchten, dass Mitarbeiter sie kritisieren.
Sie können Sitzungen vermeiden.
Sie vermeiden es, neue Freundschaften einzugehen, bis sie sich sicher sind, gemocht zu werden.
Diese Patienten halten Menschen für kritisch und missbilligend, bis dass strenge Tests das Gegenteil beweisen. Daher benötigen Patienten mit dieser Erkrankung bevor sie sich einer Gruppe anschließen oder eine enge Beziehung aufbauen die wiederholte Zusicherung der Unterstützung und unkritische Akzeptanz.
Patienten mit einer ängstlich-vermeidenden Persönlichkeitsstörung sehnen sich nach sozialer Interaktion, fürchten aber, ihr Wohlbefinden in die Hände anderer zu legen. Da diese Patienten ihre Interaktionen mit anderen Menschen einschränken, sind sie relativ isoliert und verfügen nicht über ein soziales Netz, das ihnen helfen könnte, wenn sie es brauchen.
Diese Patienten reagieren sehr empfindlich auf alles, was etwas kritisch, missbilligend, oder spöttisch ist, weil sie ständig darüber nachdenken, ob sie von anderen kritisiert oder abgelehnt werden. Sie sind wachsam auf Anzeichen einer negativen Reaktion ihnen gegenüber. Ihre angespannte, ängstliche Erscheinung kann Spott oder Necken provozieren, was ihre Selbstzweifel zu bestätigen scheint.
Geringes Selbstwertgefühl und ein Gefühl der Unzulänglichkeit hemmen diese Patienten in sozialen Situationen, vor allem in neuen. Interaktionen mit neuen Menschen werden verhindert, weil die Patienten von sich denken, dass sie sozial unfähig, unattraktiv, und schlechter als andere sind. Sie sind in der Regel still und schüchtern und versuchen, sich zu verstecken, weil sie glauben, wenn sie etwas sagen, würden andere sagen, es sei falsch. Sie reden nur ungern über sich selbst, damit sie nicht gedemütigt oder verspottet werden. Sie sorgen sich, dass sie erröten oder weinen, wenn sie kritisiert werden.
Patienten mit einer ängstlich-vermeidenden Persönlichkeitsstörung sind aus ähnlichen Gründen zurückhaltend, wenn es darum geht, persönliche Risiken auf sich zu nehmen oder an neuen Aktivitäten teilzunehmen. In solchen Fällen übertreiben sie oft die Gefahren und begründen ihr Vermeidungsverhalten mit minimalen Symptomen oder anderen Problemen. Sie können einen eingeschränkten Lebensstil bevorzugen aufgrund ihres Bedürfnisses nach Sicherheit und Gewissheit.
Diagnose von vermeidender Persönlichkeitsstörung
Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders, Fünfte Auflage, Textüberarbeitung (DSM-5-TR) Kriterien
Für eine Diagnose der Vermeidenden Persönlichkeitsstörung (1) müssen Patienten folgende Merkmale aufweisen:
Ein anhaltendes Muster, bei dem soziale Kontakte vermieden werden, sich unzulänglich fühlen und überempfindlich auf Kritik und Ablehnung reagieren.
Dieses Muster wird durch das Vorhandensein von ≥ 4 des folgenden gezeigt:
Vermeidung von berufsbezogenen Aktivitäten, die zwischenmenschliche Kontakt einbeziehen, weil sie fürchten, dass sie kritisiert werden oder abgelehnt oder, dass die Menschen sie mißbilligen
Mangelnde Bereitschaft, sich auf andere Menschen einzulassen, wenn sie nicht sicher sind, dass sie gemocht werden
Halten engen Beziehungen zurück, weil sie Spott oder Demütigung fürchten,
Die Beschäftigung damit kritisiert oder in sozialen Situationen abgelehnt zu werden
Hemmung in neuen sozialen Situationen, weil sie sich unzulänglich fühlen
Selbsteinschätzung als sozial inkompetent, unattraktiv oder minderwertig gegenüber anderen
Unlust persönliche Risiken einzugehen oder bei einer neuen Aktivität teilzunehmen, weil es peinlich für sie sein könnte
Außerdem müssen Symptome im frühen Erwachsenenalter begonnen haben.
Differenzialdiagnosen
Eine ängstlich-vermeidende Persönlichkeitsstörung muss von den folgenden beiden Störungen unterschieden werden:
Soziale Phobie: Die Unterschiede zwischen der sozialen Phobie und einer ängstlich- vermeidenden Persönlichkeitsstörung sind subtil. Ber der ängstlich-vermeidenden Persönlichkeitsstörung sind Angst und Vermeidungsverhalten ausgeprägter als bei der sozialen Phobie, die sich häufig auf Situationen bezieht, die in der Öffentlichkeit peinlich sein können (z. B. öffentliches Reden, Bühnenauftritte). Jedoch kann soziale Phobie ein breiteres Vermeidungsmuster beinhalten und somit schwer zu unterscheiden sein. Die beiden Funktionsstörungen treten häufig zusammen auf.
Schizoide Persönlichkeitsstörung: Beide Erkrankungen sind durch soziale Isolation gekennzeichnet. Patienten mit einer schizoiden Persönlichkeitsstörung isolieren sich jedoch, weil sie an anderen desinteressiert sind, während Patienten mit einer ängstlich-vermeidenden Persönlichkeitsstörung isoliert werden, weil sie überempfindlich auf mögliche Ablehnung oder Kritik durch andere reagieren.
Andere Persönlichkeitsstörungen können in gewisser Weise der ängstlich-vermeidenden Persönlichkeitsstörung ähnlich sein, lassen sich aber durch charakteristische Merkmale unterscheiden (z. B. durch das Bedürfnis, umsorgt zu werden bei der abhängigen Persönlichkeitsstörung gegenüber der Vermeidung von Ablehnung und Kritik bei der ängstlich-vermeidenden Persönlichkeitsstörung).
Diagnosehinweis
1. American Psychiatric Association: Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders, 5th ed, Text Revision (DSM-5-TR). Washington, DC, American Psychiatric Association, 2022, pp 764-768.
Behandlung der vermeidenden Persönlichkeitsstörung
Kognitive Verhaltenstherapie zielt auf soziale Fähigkeiten.
Supportive Psychotherapie
psychodynamische Psychotherapie
Anxiolytika und Antidepressiva
Die allgemeine Grundsätze für die Behandlung der ängstlich-vermeidenden Persönlichkeitsstörung sind ähnlich wie bei allen Persönlichkeitsstörungen.
Patienten mit einer ängstlich-vermeidenden Persönlichkeitsstörung entscheiden sich häufig gegen eine Therapie.
Zu den wirksamen Therapien für Patienten, die sowohl an sozialer Phobie als auch an einer ängstlich-vermeidender Persönlichkeitsstörung leiden, gehören (1):
Kognitive Verhaltenstherapie, die auf den Erwerb von sozialen Fähigkeiten zielt, durchgeführt in Gruppen
Andere Gruppentherapien, wenn die Gruppe aus Menschen mit den gleichen Schwierigkeiten besteht
Patienten mit vermeidender Persönlichkeitsstörung profitieren von individuellen Therapien, die unterstützend und empfindlich auf die Überempfindlichkeit des Patienten gegenüber anderen reagieren.
Psychodynamische Psychotherapie, die sich auf zugrunde liegende Konflikte konzentriert, kann hilfreich sein.
Es gibt keine placebokontrollierten Studien zu Medikamenten.
Literatur zur Therapie
1. Weinbrecht A, Schulze L, Boettcher J, et al: Avoidant personality disorder: A current review. Curr Psychiatry Rep 18(3):29, 2016. doi: 10.1007/s11920-016-0665-6