Kinderlähmung

(Poliomyelitis; Polio)

VonBrenda L. Tesini, MD, University of Rochester School of Medicine and Dentistry
Überprüft/überarbeitet Sept. 2024
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Kurzinformationen

Kinderlähmung ist eine hoch ansteckende, mitunter tödlich verlaufende Enterovirusinfektion, welche die Nerven befällt und dauerhafte Muskelschwäche, Lähmung und andere Symptome verursachen kann.

  • Polio wird von einem Virus verursacht und in der Regel durch Aufnahme von kontaminierter Nahrung oder kontaminiertem Wasser oder durch Berühren einer kontaminierten Fläche und anschließendes Berühren des Mundes übertragen.

  • Viele Infizierte haben keine Symptome, die meisten anderen haben lediglich leichte Symptome.

  • Die Symptome umfassen Fieber, Kopfschmerzen, Nacken- und Rückensteife, tiefe Muskelschmerzen und manchmal Schwäche oder Lähmung.

  • Die Diagnose wird anhand der Symptome und des Befunds einer Stuhlkultur gestellt.

  • Die Kinderlähmung (Polio) kann durch keine Behandlung geheilt werden.

  • Manche Kinder werden wieder vollständig gesund, andere tragen jedoch eine bleibende Schwäche davon.

  • Eine Routineimpfung kann die Infektion verhindern.

Poliomyelitis wird vom Poliovirus verursacht, einem Enterovirus, das durch Aufnahme von Nahrung oder Wasser, die mit Fäkalien von einer infizierten Person verunreinigt sind, oder durch Berühren einer kontaminierten Fläche und anschließendes Berühren des Mundes übertragen wird. Mitunter wird das Poliovirus auch über den Speichel einer infizierten Person oder Tröpfchen, die eine infizierte Person beim Niesen oder Husten ausstößt, übertragen. Die Ansteckung erfolgt durch Einatmen der Tröpfchen in der Luft oder durch Berühren von Gegenständen, die mit dem infektiösen Speichel oder den infektiösen Tröpfchen kontaminiert sind.

Die Infektion beginnt in der Regel im Darm. Von dort breitet sie sich auf die Teile des Gehirns und des Rückenmarks aus, welche die Muskelaktivität kontrollieren.

Im frühen 20. Jahrhundert war Kinderlähmung in den USA und anderswo weit verbreitet. Heute sind die Polio-Ausbrüche aufgrund einer flächendeckenden Immunisierung weitgehend verschwunden. Der letzte Fall einer Infektion mit einem wilden (natürlichen) Poliovirus in den USA trat im Jahr 1979 auf. Die westliche Hemisphäre wurde 1994 für poliofrei erklärt. Ein globales Programm zur Ausrottung von Polio läuft, aber Fälle von Infektionen mit Wildtyp-Polioviren kommen in Pakistan und Afghanistan immer noch vor und wurden zuletzt 2023 auch in Malawi und Mosambik gemeldet.

Neben dem Wildtyp des Poliovirus gibt es ganz selten auch Mutationen des Poliovirus in dem oralen Lebendimpfstoff (in etwa 1 von 2,4 Millionen Dosen). Das mutierte Virus kann sich von der geimpften Person auf ungeimpfte Personen ausbreiten, weiter mutieren und möglicherweise Polio auslösen. In einigen Ländern war das mutierte Virus im Impfstoff faktisch die einzige Ursache von Polio, sodass die meisten dieser Länder (darunter auch die USA) den oralen Polioimpfstoff nicht mehr verwenden. Andere Länder verwenden den oralen Polioimpfstoff weiterhin, weil sich dadurch mehr Menschen impfen lassen. So kommen Poliofälle auch immer wieder in Ländern vor, die den Lebendimpfstoff verwenden und in denen viele Menschen nicht immunisiert sind (wodurch sich das Virus weiter verbreiten kann). Zuletzt wurden Infektionen mit dem Poliovirus infolge des Impfstoffs in der Demokratischen Republik Kongo und in anderen Gegenden Afrikas gemeldet. Eine breit abgestützte Immunisierung kann die Ausbreitung beider Arten von Polioausbrüchen stoppen und Reisende in gewisse Länder müssen möglicherweise nachweisen, dass sie über eine angemessene Schutzimpfung verfügen.

In den USA wurde ein Fall von impfstoffbedingter Polio bei einer nicht geimpften Person festgestellt, die sich die Infektion im Juli 2022 im US-Bundesstaat New York zugezogen hatte. Die Abwasserüberwachung hat das Virus in Proben in mehreren Bezirken in New York entdeckt, aber es wurden keine weiteren Fälle nach diesem Ausbruch festgestellt (siehe auch New York State Department of Health: Wastewater Surveillance).

Kinderlähmung kann nicht immunisierte Personen aller Altersstufen betreffen. In der Vergangenheit waren von der Infektion vor allem Kinder und Jugendliche betroffen, da viele ältere Erwachsene bereits Kontakt mit dem Virus gehabt und Immunität dagegen entwickelt hatten.

Symptome der Kinderlähmung

Die meisten Polioinfektionen verursachen keine Symptome. Nur ungefähr 25 bis 30 Prozent der Infizierten werden symptomatisch.

Polioinfektionen, die Symptome verursachen, werden wie folgt kategorisiert:

  • Leichte Infektionen (mild)

  • Nichtparalytische Poliomyelitis (schwerwiegend)

  • Paralytische Poliomyelitis (schwerster Verlauf)

Leichte Poliovirus-Infektionen

Bei dieser mild verlaufenden und am häufigsten auftretenden Form von Polio weisen die meisten Personen grippeartige Symptome wie Fieber, leichte Kopfschmerzen, Halsschmerzen, Erbrechen und ein allgemeines Krankheitsgefühl (Unwohlsein) auf. Diese Symptome treten 3 bis 5 Tage nach der Ansteckung auf.

Nichtparalytische Poliomyelitis

Menschen mit dieser Form von Poliomyelitis entwickeln die charakteristische Nacken- und/oder Rückensteifheit sowie Kopfschmerzen (aseptische Meningitis), und zwar mehrere Tage nach den grippeartigen Symptomen einer abortiven Poliomyelitis. Die Symptome dauern 2 bis 10 Tage an. Bei den Betroffenen kommt es nicht zu Lähmungserscheinungen.

Paralytische Poliomyelitis

Weniger als 1 Prozent der Infizierten hat diese schwerste Form von Polio. Zusätzlich zu einer aseptischen Meningitis kommt es bei Patienten mit dieser Form auch zu Lähmungen.

Zu den Symptomen, die im Normalfall 7 bis 21 Tage nach der Infektion auftreten, gehören Fieber, starke Kopfschmerzen, Nacken- und Rückensteife sowie tiefe Muskelschmerzen. Manchmal kommt es in verschiedenen Bereichen der Haut zu Missempfindungen wie Kribbeln und ungewöhnlicher Schmerzempfindlichkeit.

Je nachdem, welche Hirn- oder Rückenmarksabschnitte betroffen sind, kann die Erkrankung weiter fortschreiten, und es kommt dann zu Schwäche und Lähmung bestimmter Muskeln. Von der Lähmung sind meist die Muskeln in Armen und Beinen betroffen, sodass diese erschlaffen und nicht mehr angespannt werden können (schlaffe Lähmung).

Der Erkrankte kann Schluckbeschwerden haben oder sich an seinem Speichel, an Nahrungsmitteln oder Flüssigkeiten verschlucken. Manchmal steigt Flüssigkeit die Nase hoch, und die Stimme kann einen näselnden Ton annehmen. Wenn das Atemzentrum im Gehirn betroffen ist, wird die Brustmuskulatur geschwächt oder gelähmt. Manche erkrankten Menschen können überhaupt nicht mehr atmen.

Diagnose der Kinderlähmung

  • Tests an einer Stuhlprobe oder einer Probe aus Rachensekret

  • Bluttests

  • Eine Spinalpunktion

Eine geringfügige Poliomyelitis gleicht anderen Virusinfektionen und wird meist nicht diagnostiziert, wenn sie nicht im Rahmen einer Polio-Epidemie auftritt.

Eine nichtparalytische Poliomyelitis wird bei Menschen mit grippeähnlichen Symptomen und steifem Nacken und/oder Rücken vermutet.

Von einer paralytischen Poliomyelitis wird bei Betroffenen mit Muskel- oder Gliederschwäche oder entsprechenden Lähmungen ausgegangen.

Bestätigt wird die Diagnose einer nicht paralytischen oder paralytischen Poliomyelitis durch den Nachweis von Polioviren in einer Stuhlprobe oder einem Rachenabstrich und durch hohe Antikörperspiegel gegen das Virus im Blut.

Meist wird auch eine Lumbalpunktion durchgeführt, um nach anderen Erkrankungen zu suchen, die das Gehirn und/oder das Rückenmark betreffen, und um die Rückenmarkflüssigkeit auf Polioviren zu testen.

Behandlung der Kinderlähmung

  • Ruhe

  • Medikamente gegen Schmerzen und zur Fiebersenkung

Es gibt keine Behandlung zur Heilung von Polio (obwohl sich manche Patienten vollständig erholen). Der Verlauf der Krankheit kann mit den verfügbaren antiviralen Medikamenten nicht beeinflusst werden.

Die Behandlung besteht aus Ruhe, Schmerzmitteln und Medikamenten zur Fiebersenkung.

Ein Beatmungsgerät muss möglicherweise zu Hilfe genommen werden, wenn die Atemmuskulatur geschwächt ist. Oft ist das Beatmungsgerät jedoch nur vorübergehend erforderlich.

Prognose bei Kinderlähmung

Menschen mit einer geringfügigen Poliovirusinfektion oder nichtparalytischen Poliomyelitis erholen sich vollständig.

Etwa zwei Drittel der Patienten mit paralytischer Poliomyelitis leiden unter einer dauerhaften Schwäche. Die Sterblichkeit liegt bei Kindern bei 2 bis 5 Prozent, bei Jugendlichen und Erwachsenen bei 15 bis 30 Prozent und bei Menschen, bei denen die Polio die Nerven betrifft, die den Blutdruck und die Atmung steuern, bei 25 bis 75 Prozent.

Manchmal tritt erst Jahre oder Jahrzehnte nach einer scheinbar folgenlos abgeklungenen Polioerkrankung erneut Muskelschwäche auf (siehe Post-Polio-Syndrom).

Vorbeugung gegen Kinderlähmung

Der Polioimpfstoff ist Teil der routinemäßigen Impfungen im Kindesalter (siehe Centers for Disease Control and Prevention: Routine Polio Vaccination. Der Impfstoff ist bei über 95 Prozent der Kinder wirksam. Erwachsene, die nicht oder nicht vollständig geimpft sind, sollten ebenfalls geimpft werden.

Es gibt weltweit zwei Arten von Impfstoffen:

  • Einen inaktivierten Polioimpfstoff (Salk-Impfstoff), der durch eine Injektion verabreicht wird

  • Einen Lebendimpfstoff (Sabin-Impfstoff) zum Einnehmen (Schluckimpfung)

Der Lebendimpfstoff ist ein abgeschwächtes Poliovirus, das keine Krankheit verursacht. Der orale Impfstoff bietet eine bessere Immunität in der Bevölkerung, weil das Virus vorübergehend im Stuhl ausgeschieden wird, sodass auch andere Personen im Umfeld dem Impfstoff ausgesetzt sein können. Wenn das Virus aus dem Impfstoff von Mensch zu Mensch übertragen wird, kann es in sehr seltenen Fällen zu einer krankheitsverursachenden Form des Virus mutieren und ist pro 2,4 Millionen verabreichter Dosen für 1 Polio-Fall verantwortlich. Da Polio in den USA ausgerottet ist, empfehlen Ärzte für Kinder dort lediglich die Injektionsimpfung mit dem inaktivierten Poliovirus. Die Schluckimpfung ist in den USA nicht mehr erhältlich, kommt jedoch in anderen Teilen der Welt weiterhin zum Einsatz.

Da das impfstoffbedingte Poliovirus Typ 2 in den Vereinigten Staaten bei der Abwasserüberwachung nachgewiesen wurde, aktualisierte das Beratungsgremium zu Immunisierungspraktiken (Advisory Committee on Immunization Practices, ACIP) 2023 die Polio-Impfempfehlungen für Erwachsene. Erwachsene, die noch nie geimpft wurden oder nicht alle empfohlenen Dosen erhalten haben, sollten die vollständige Impfreihe aus 3 Injektionen erhalten. Im Idealfall erhalten die Patienten 2 Dosen im Abstand von 4 bis 8 Wochen und 6 bis 12 Monate später eine 3. Dosis.

Immunisierte Erwachsene mit einem erhöhten Risiko für eine Exposition gegenüber Polioviren, wie etwa solche, die in endemische oder epidemische Gebiete reisen, können 1 Lebenszeit-Auffrischungsimpfung mit dem Polioimpfstoffs (IPV) erhalten. Informationen darüber, in welchen Regionen es Polioinfektionen gibt, sind bei den Gesundheitsbehörden sowie von den Centers for Disease Control and Prevention erhältlich.

Eine breit abgestützte Immunisierung kann die Ausbreitung beider Arten von Polioausbrüchen stoppen und Reisende in gewisse Länder müssen möglicherweise nachweisen, dass sie über eine angemessene Schutzimpfung verfügen.

Weitere Informationen

  1. Die folgenden Quellen in englischer Sprache können nützlich sein. Bitte beachten Sie, dass das MANUAL nicht für den Inhalt dieser Quelle verantwortlich ist.

  2. Centers for Disease Control and Prevention: Polio Vaccination: Allgemeine Informationen über Kinderlähmung (Polio) und aktualisierte Impfinformationen