Überblick über dissoziative Störungen

VonDavid Spiegel, MD, Stanford University School of Medicine
Überprüft/überarbeitet Mai 2023
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    Viele Menschen kämpfen gelegentlich mit Lücken in der Erinnerung, der eigenen Wahrnehmung, der Identität und dem Bewusstsein. Zum Beispiel kann es passieren, dass Menschen eine Fahrt unternehmen und dann feststellen, dass sie sich nicht mehr daran erinnern können. Es ist möglich, dass sie sich nicht erinnern, weil sie in Gedanken, einer Radiosendung oder in ein Gespräch mit einem Beifahrer versunken sind oder einfach nur tagträumen. Solche Probleme, die man als normale Dissoziation bezeichnet, stören den Alltag typischerweise nicht.

    Demgegenüber können Menschen mit einer dissoziativen Störung Aktivitäten, die sich über Minuten, Stunden oder manchmal viel längere Zeiträume ereignet haben, vollkommen vergessen. Sie können das Gefühl haben, dass ihnen die Erinnerung an einen Zeitraum fehlt. Darüber hinaus fühlen sie sich möglicherweise von sich selbst, das heißt, von ihren Erinnerungen, Eindrücken, ihrer Identität, ihren Gedanken, Gefühlen, ihrem Körper und ihrem Verhalten losgelöst (dissoziiert). Oder sie fühlen sich von der Welt um sich herum losgelöst. Ihr Identitätsgefühl, ihre Erinnerung und/oder ihr Bewusstsein ist also bruchstückhaft.

    Zu den dissoziativen Störungen zählen:

    Wussten Sie ...

    • Massiver Stress oder Trauma können Gedächtnislücken hervorrufen. Aber ein leichter Schlag auf den Kopf kann nicht dazu führen, dass Menschen plötzlich vergessen, wer sie sind, und ihr gesamtes Wissen verlieren.

    Dissoziative Störungen werden normalerweise durch überwältigenden Stress oder Trauma ausgelöst. Zum Beispiel können Betroffene in ihrer Kindheit missbraucht oder misshandelt worden sein. Sie können traumatische Ereignisse erlebt oder miterlebt haben, wie beispielsweise Unfälle oder Katastrophen. Oder sie durchleben innere Konflikte, die so unerträglich sind, dass ihre Psyche gezwungen ist, inkompatible oder unakzeptable Informationen und Gefühle von bewussten Denkvorgängen zu trennen.

    Dissoziative Störungen beziehen sich auf trauma- und stressbezogene Störungen (akute Belastungsreaktionen und posttraumatische Belastungsstörungen). Menschen mit stressbezogenen Störungen können an dissoziativen Symptomen wie Amnesie, Flashbacks, Abgestumpftheit und Depersonalisation/Derealisation leiden. Manche Menschen mit posttraumatischer Belastungsstörung (PTBS) erleben auch eine Selbstentfremdung (Depersonalisation), einen Realitätsverlust (Derealisation) oder beides, und dies wird als dissoziativer Subtyp der PTBS klassifiziert.

    Studien an Tieren und Menschen zeigen, dass bestimmte zugrundeliegende Hirnstrukturen und -funktionen mit dissoziativen Störungen in Zusammenhang stehen. Wissenschaftler verstehen allerdings noch nicht, wie diese auffälligen Hirnstrukturen und -funktionen dissoziative Störungen verursachen oder wie dieses Wissen in die Behandlung einfließen könnte. Dennoch scheinen die Befunde vielversprechend und könnten mit weiteren Studien vertieft werden.