Übersicht über psychische Gesundheitsstörungen

VonMichael B. First, MD, Columbia University
Überprüft/überarbeitet Apr. 2022 | Geändert Sept. 2022
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Kurzinformationen

Psychische (psychiatrische oder psychologische) Störungen beziehen sich auf Abweichungen im Denken, Fühlen und/oder Handeln von der Norm. Kleinere Abweichungen in diesen Lebensaspekten sind üblich, aber wenn solche Abweichungen die Person stark belasten und/oder ihr tägliches Leben beeinträchtigen, werden sie als psychische Krankheit oder psychische Gesundheitsstörung angesehen. Die Auswirkungen einer psychischen Erkrankung können langfristig oder temporär sein.

Fast 50 Prozent aller Erwachsenen leiden irgendwann in ihrem Leben an einer psychischen Erkrankung. Mehr als die Hälfte dieser Menschen haben mittelschwere bis schwere Symptome. Tatsächlich sind vier der zehn häufigsten Ursachen von Behinderung bei Menschen im Alter ab fünf Jahren psychische Gesundheitsstörungen, die eine Behinderung verursachen, mit Depression an erster Stelle. Trotz dieser weiten Verbreitung psychischer Störungen erhalten nur 20 Prozent der Menschen, die unter psychischen Erkrankungen leiden, professionelle Hilfe.

Trotz erheblicher Fortschritte, die beim Verständnis und bei der Behandlung von psychischen Erkrankungen erzielt wurden, haftet ihnen noch immer ein Stigma an. Zum Beispiel werden Menschen mit psychischen Erkrankungen selbst für diese verantwortlich gemacht oder sie werden als faul oder verantwortungslos bezeichnet. Psychische Erkrankungen werden unter Umständen als weniger echt oder legitim angesehen als körperliche, was bei Politikern und Versicherungsgesellschaften zu einer mangelnden Bereitschaft führt, die Bezahlung für eine Behandlung zu übernehmen. Die wachsende Erkenntnis, wie stark psychische Erkrankungen die Gesundheitskosten und den Krankenstand beeinflussen, hat diesen Trend jedoch verändert.

Erkennen von psychischen Erkrankungen

Psychische Erkrankungen lassen sich nicht immer klar von normalem Verhalten unterscheiden. Normale Trauer und Depression nach einem schweren Verlust wie zum Beispiel nach dem Tod eines Kindes oder eines Partners lassen sich manchmal nur schwer voneinander unterscheiden, weil beide mit Trauer und Niedergeschlagenheit einhergehen.

Ebenso kann die Entscheidung, ob Menschen, die sich um ihre Arbeit sorgen oder einfach unter Stress stehen, an Angststörung leiden, schwierig sein, wenn man bedenkt, dass die meisten Menschen diese Gefühle kennen.

Die Grenze zwischen bestimmten Persönlichkeitsmerkmalen (wie z. B. pflichtbewusst oder ordnungsliebend zu sein) und einer Persönlichkeitsstörung (wie z. B. eine zwanghafte Persönlichkeitsstörung) kann fließend sein.

Daher sollten psychische Gesundheit und psychische Erkrankungen als Kontinuum betrachtet werden. Jede Unterscheidung stützt sich in der Regel auf das Folgende:

  • Wie schwer die Symptome sind

  • Wie lange die Symptome anhalten

  • Wie stark die Symptome die Fähigkeit beeinflussen, den Alltag zu bewältigen.

Ursachen für psychische Erkrankungen

Gegenwärtig wird von psychischen Erkrankungen angenommen, dass sie durch eine komplexe Wechselwirkung von Faktoren verursacht werden, unter anderem durch:

  • Genetik

  • Biologische (physikalische Faktoren)

  • Psyche

  • Umwelt (einschließlich soziale und kulturelle Faktoren)

Forschungen haben ergeben, dass Vererbung bei vielen psychischen Gesundheitsstörungen eine Rolle spielt. Oft tritt eine psychische Gesundheitsstörung bei Menschen auf, die eine entsprechende genetische Veranlagung für solche Krankheiten haben. Diese Veranlagung in Kombination mit Stresssituationen im Lebensalltag, wie z. B. Schwierigkeiten in Familie und Arbeit, können zur Ausbildung einer psychischen Krankheit führen.

Viele Experten sind auch der Meinung, dass eine gestörte Regulierung chemischer Botenstoffe im Gehirn (Neurotransmitter) für psychische Gesundheitsstörungen mitverantwortlich sein können. Bildgebende Verfahren wie die Magnetresonanztomographie (MRT) und Positronen-Emissions-Tomographie (PET) zeigen häufig Veränderungen im Gehirn von Menschen mit psychischen Gesundheitsstörungen. Daher scheinen viele dieser psychischen Gesundheitsstörungen, ähnlich wie die, die als neurologisch angesehen werden (z. B. die Alzheimerkrankheit), eine biologische Komponente zu haben. Dennoch ist unklar, ob die Veränderungen, die bei bildgebenden Untersuchungen zu beobachten sind, die Ursache oder ein Resultat der psychischen Gesundheitsstörung sind.

Deinstitutionalisierung

In den letzten Jahrzehnten gab es den Trend, psychisch Kranke aus Anstalten herauszuholen (Deinstitutionalisierung) und sie zu unterstützen, damit sie in Gemeinschaften leben können. Dieser Trend ist das Resultat der Entwicklung effektiver Medikamente, zusammen mit Veränderungen in der Einstellung gegenüber psychisch Kranken. Er spiegelt den Wunsch wider, psychisch kranke Menschen als Familien- und Gemeinschaftsmitglieder anzusehen. Ein Urteil des US-Verfassungsgerichts aus dem Jahr 1999 hat maßgeblich zu dieser Veränderung beigetragen. Dieses Urteil, bekannt als „Olmstead-Entscheidung“, verpflichtet die Bundesstaaten dazu, die Behandlung psychischer Erkrankungen in der Gemeinde zu gewährleisten, wann immer sich eine solche Unterbringung als medizinisch angemessen erweist.

Forschungsergebnisse haben gezeigt, dass bestimmte Interaktionen zwischen einer Person mit einer schweren psychischen Erkrankung und Familienmitgliedern die Erkrankung lindern oder verschlimmern können. Deshalb wurden Familientherapietechniken entwickelt, die verhindern, dass chronisch psychisch erkrankte Patienten wiederholt in eine Institution eingewiesen werden müssen. Daher wird die Familie des Patienten heute mehr denn je als ein Verbündeter in die Therapie eingebunden. Auch der Hausarzt spielt bei der Rehabilitation und der Reintegration einer psychisch kranken Person in die Gesellschaft eine wichtige Rolle.

Außerdem müssen psychisch kranke Menschen, die in eine Klinik eingewiesen werden müssen, heute aufgrund der verbesserten Wirksamkeit einer medikamentösen Behandlung seltener allein untergebracht oder körperlich ruhig gestellt werden als früher. Häufig werden sie heute auch innerhalb von Tagen entlassen und in Tageskliniken betreut. Die Tageskliniken kosten weniger als die stationären Einrichtungen, weil weniger Mitarbeiter benötigt werden. Hier liegt die Betonung auf Gruppentherapie und nicht auf individuelle Therapie, und die Patienten schlafen zuhause oder in Wohnheimen und nicht im Krankenhaus.

Das ambulante Behandlungskonzept zieht aber auch Probleme nach sich. Öffentliche Gesundheitsdienste für psychische Krankheiten können aufgrund fehlender Gelder die notwendige Behandlung und den Schutz vor Gefahren, der den Patienten in stationären Einrichtungen geboten wurde, nicht adäquat ersetzen. Daher haben viele Menschen nicht die psychische Betreuung erhalten, die sie benötigen. Darüber hinaus verhindern die Gesetze heute, dass psychisch kranke Menschen, die keine Gefahr für sich selbst oder die Gesellschaft darstellen, gegen ihren Willen institutionalisiert oder medikamentös behandelt werden. Dies stellt ein besonderes Problem dar, da einige schwere psychische Störungen dadurch gekennzeichnet sind, dass sich die Betroffenen nicht bewusst sind, dass sie ein psychisches Problem haben (Anosognosie). Daher werden viele psychisch Kranke, die außerhalb einer Klinik einen Krankheitsschub erleiden, obdachlos oder landen im Gefängnis. Viele versterben früh aufgrund von Gefährdung, Infektion oder unzureichend behandelten medizinischen Problemen. Obwohl diese Gesetze die Bürgerrechte der Betroffenen schützen, machen sie es für viele psychisch Erkrankte – von denen manche ohne Behandlung extrem irrational handeln – schwerer, die benötigte Behandlung zu erhalten.

Wegen der mit Deinstitutionalisierung verbundenen Probleme wurden neue Behandlungsansätze wie die gemeindeorientierte Versorgung (Assertive Community Treatment, ACT) entwickelt. Sie sollen dafür sorgen, dass Menschen mit chronischen, schweren psychischen Erkrankungen ein Sicherheitsnetz haben. Bei ACT wird ein multiprofessionelles Team aus Sozialarbeitern, Reha-Spezialisten, Beratern, Krankenpflegern und Psychiatern eingesetzt. Das Team stellt individualisierte Dienste für Menschen mit ernsten psychischen Erkrankungen bereit, die nicht zum Arzt oder in eine Klinik gehen können oder wollen. Die Dienste werden im eigenen Heim oder in der näheren Umgebung der Person, zum Beispiel in nahegelegenen Restaurants, Parks oder Geschäften, bereitgestellt.

Sozialer Rückhalt

Jeder Mensch braucht sozialen Rückhalt, um sein menschliches Bedürfnis nach Fürsorge, Akzeptanz und seelischer Unterstützung, besonders in schwierigen Zeiten, zu decken. Untersuchungen zeigen, dass starker sozialer Rückhalt die Genesung von körperlichen und seelischen Erkrankungen erheblich verbessern kann. Gesellschaftliche Veränderungen haben diesen traditionellen Rückhalt geschwächt, der früher von Nachbarn und Familien bereitgestellt wurde. Als eine Alternative schossen im ganzen Land Selbsthilfegruppen und Hilfegruppen aus dem Boden.

Einige Selbsthilfegruppen, wie die Anonymen Alkoholiker und Narcotics Anonymous, beschäftigen sich mit Suchtverhalten. Andere fungieren als Fürsprecher bestimmter Bevölkerungsgruppen wie der Körperbehinderten und Senioren. Wieder andere, wie die National Alliance for the Mentally Ill (Nationale Allianz für psychisch Erkrankte), unterstützen Familienmitglieder von Menschen mit schwerer psychischer Erkrankung.

Weitere Informationen

Bei dem Folgenden handelt es sich um ein englischsprachiges Hilfsmittel, das nützlich sein kann. Bitte beachten Sie, dass das MANUAL nicht für den Inhalt dieser Quelle verantwortlich ist.

  1. National Alliance on Mental Illness (NAMI):  Eine nationale Gesundheitsorganisation, die Interessenvertretung, Schulung, Unterstützung und öffentliche Aufklärungsprogramme und -dienste bietet.